Vizevorsitzende der SPD Serpil Midyatli: Nicht schnacken, sondern anpacken

Als 16-Jährige verdiente Serpil Midyatli ihr erstes Geld in der Pizzeria ihres Onkels. Heute ist sie Vizevorsitzende der SPD. Was treibt sie an?

Serpil Midyatli stützt ihren Kopf auf eine Hand und lächelt.

Sie erkennt Aufgaben und packt an: SPD-Vize Serpil Midyatli Foto: Markus Scholz/dpa/picture alliance

KIEL taz | Nur eine einzige Kellnerin ist für das komplette Lokal zuständig. Serpil Midyatli beobachtet eine Weile, wie die Frau mit Tabletts und Tellern vorbeieilt, dann rutscht sie aus der Sitzbank und bietet ihre Mithilfe an. Den Job und den Ort kennt sie bestens: Die heutige Landtagsabgeordnete, stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende und Parteichefin in Schleswig-Holstein, hat bereits als Schülerin in diesem Lokal als Aushilfe gearbeitet. „Ich bin hier tausendmal hin und her gelaufen.“

Als Midyatli als 16-Jährige ihr erstes Geld verdiente, betrieb ihr Onkel in diesen Räumen am Kieler Westring eine Pizzeria, heute führen ihre Brüder mit dem „Mega Saray“ ein Restaurant mit moderner türkischer Küche. Mid­yatli, die Älteste von vier Geschwistern, fühlt sich immer noch ein bisschen verantwortlich und muss sich selbst versichern: „Die beiden sind inzwischen alt genug.“

Nach Midyatlis überraschender Wahl zur Partei-Vize beim SPD-Parteitag im Dezember sprachen Medien von einem erstaunlichen Ergebnis, einem „unwahrscheinlichen Erfolg“. Dabei steckt Midyatlis Erfolgsrezept bereits in dieser kurzen Szene: Sie erkennt Aufgaben, packt an, statt lang zu schnacken, lässt aber auch andere ran. Sie ist schnell, spontan und kann organisieren.

Aber hat sie einen Plan, eine Agenda? Ihr Einstieg in die Politik war eigentlich gar nicht geplant, sondern geschah fast zufällig. Während des Wahlkampfs im Jahr 2000 nahm sie als Unternehmerin an einer Podiumsrunde der SPD mit der damaligen Ministerpräsidentin Heide Simonis teil. Auf der Bühne geriet sie in Rage über die Kampagne des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) gegen die doppelte Staatsbürgerschaft von in Deutschland geborenen Kindern ausländischer Eltern. „Es wird über uns geredet, aber nicht mit uns!“

Chancen lässt sie nicht ungenutzt

Auf die Frage, ob sie nicht in die SPD eintreten wolle, „habe ich noch auf der Bühne Ja gesagt“, sagt sie heute. 2009 zog sie über die Liste in den Schleswig-Holsteinischen Landtag ein, übernahm dort Themen wie Kita und Integration. Ralf Stegner, der langjährige Landesparteichef, galt als ihr Fan und Förderer.

Auch bei der Wahl zur Vizevorsitzenden der Bundes-SPD gab es ein Zufallselement: Weil die Riege der Stellvertreter*innen von drei auf fünf erweitert wurde, bekam die Frau aus dem kleinen Landesverband ihre Chance.

Aber Zufall hin oder her: Serpil Midyatli nutzt solche Gelegenheiten geschickt. Sie hielt eine fulminante Rede und erhielt mit knapp 80 Prozent das beste Ergebnis der Stellvertreterriege. Und wenn sie eine Aufgabe übernommen hat, packt sie an.Schon als Neumitglied hatte sie sich im Ortsbeirat im Kieler Stadtteil Gaarden Wirtschaftsfragen angenommen.

Gaarden gilt als sogenannter Brennpunkt, in dem viele Einkommensschwache und migrantische Familien leben. Midyatli hat den größten Teil ihrer Kindheit und Jugend in Gaarden verbracht, nachdem die Familie zunächst in Mettenhof wohnte. Die Hochhaussiedlung wurde in den 60er Jahren als modernes Viertel für Angestellte gegründet, doch später zogen einkommensschwächere Menschen in die westdeutsche Variante der Plattenbausiedlung. Midyatlis Eltern gehörten dazu.

Alle Hürden überwunden

Sie stammten aus der Türkei. Der Vater kam, um bei dem Werftunternehmen HDW zu malochen. Die Mutter folgte später nach. Serpil Midyatli wurde 1975 geboren. Die Eltern waren ehrgeizig und voller Ideen: „Mein Vater stellte fest, dass es kein Lokal gab, in dem große Familien feiern konnten“, berichtet sie.

Diese Feststellung war die Geburtsstunde des „Mega Saray“, des „großen Palastes“ im Herzen von Gaarden: ein türkisches Lokal mit Festsaal und Catering. In diesem Lokal hat Serpil Midyalti Nervenstärke und improvisieren gelernt: „Es waren 300 Gäste angemeldet, und es kamen 400 – die muss man dann alle satt kriegen“, sagt sie.

Als 18-Jährige übernahm Midyatli die Geschäftsführung für den Saalbetrieb und das Catering. Der Onkel, bei dem sie vorher gejobbt hatte, hatte das vorgeschlagen. Dabei stand die junge Frau kurz vor ihrem Abitur und war Schulsprecherin, ihr erstes öffentliches Amt.

Nichts davon war in der ersten Klasse zu erwarten gewesen: Die Lehrerin ließ sie und ihre Geschwister hinten im Raum Bilder malen, weil sie annahm, „die Türken“ verstünden kein Deutsch und würden ohnehin bald wieder gehen. Dabei sprach Serpil Midyatli die Sprache bestens, und eine Rückkehr kam für die Eltern, die ihr Geld in das Lokal gesteckt hatten, nie infrage. Midyatli wiederholte die erste Klasse, die nächste Lehrerin förderte sie.

Ständig am Arbeiten

Mit Bestärkung der Eltern wechselte sie aufs Gymnasium. Der Plan hieß Studium: „Ich habe an Jura gedacht.“ Doch nach der Entscheidung der Familie, sie solle ins Geschäft einsteigen, ging sie von der Schule ab: „Es war nicht so, dass ich eine Wahl gehabt habe“, sagt sie und fügt gleich hinzu: „Ich bin froh, dass sich mein Lebensweg so entwickelt hat.“

Dass sie – anders als die meisten Berufspolitiker*innen – weder den höchsten Schulabschluss noch Studium hat, na und? „Ich habe kein Problem damit.“ Im Gegenteil: Sie freue sich darüber, dass der Landtag diverser werde und verschiedene Lebensläufe zulasse. Sie war die erste Muslima im Kieler Parlament. Der Glaube ist ihr wichtig, auch wenn sie nicht streng die Regeln befolgt: Ein Glas Wein ist in Ordnung, Kopftuch hat sie nie getragen.

Inzwischen hat Midyatli selbst zwei Söhne, 16 und 10 Jahre alt. Beruf und Familie haben für sie immer zusammengehört: Vier Tage vor der Geburt ihres Sohne pachtete sie mit ihrem Mann die „Räucherei“, ein Kieler Kultlokal und Veranstaltungszentrum. Heute kümmert sich ihr Mann um Haushalt und Kinder, hält ihr den Rücken frei. Aber die Regel, „wer selbstständig ist, muss ständig arbeiten“, hat Midyatli verinnerlicht.

Das gilt ebenso für die Politik: Jeder Termin lässt sich zum Netzwerken nutzen, für ein Gespräch am Rand. Die Kielerin will die Bodenhaftung behalten, will „wissen, wie die Lebenswirklichkeit aussieht“. In einer Selbstbeschreibung nennt sie „auf Menschen zugehen“ als Kern ihres Politikstils: „Denn es geht für mich darum, Alltagsprobleme zu lösen.“

Ralf Stegner nannte sie einst „einen Vulkan“

Sie kann scharf werden und ihre Position pointiert verteidigen. „Hat noch jemand einen Zwischenruf parat?“, rief sie während einer Debatte um das Kita-Gesetz in den Plenarsaal. „Gern doch, ist nur ein Ansporn!“

Härte braucht sie auch, weil sie als Frau mit Migrationshintergrund doppelt kritisch betrachtet wird. Hassbotschaften und Pöbeleien, vor allem gegenüber Ehrenamtlichen, seien ein riesiges gesellschaftliches Problem, für das es eine Lösung geben müsse, sagt Midyatli. Sie persönlich habe sich davon nie beirren lassen. Da spricht die Serpil Midyatli, die der ehemalige Landesparteichef Ralf Stegner als „Vulkan“ bezeichnet.

Mit Stegners „direkter Art“ sei sie „immer gut klargekommen“, sagt Midyatli, die ebenfalls als Parteilinke gilt. Dass sie als Landesvorsitzende antrat, obwohl Stegner im Amt bleiben wollte, habe mit der Lage der Partei zu tun gehabt, dem „Frust nach dem Verlust“ der Landesregierung im Mai 2017. „Es war das Gefühl an der Basis, dass sich an der Spitze etwas ändern musste.“ Sie sei angetreten, „weil ich meinen Beitrag leisten wollte“.

Inzwischen hat sie ihren politischen Ziehvater auch im Bundesvorstand abgelöst. Geholfen hat der Wechsel nicht, eine aktuelle Umfrage sieht die SPD in Schleswig-Holstein bei 20 Prozent, 7 Punkte weniger als 2017.

Midyatli bleibt optimistisch, auch für die Bundes-SPD: „Wir haben ein neues Führungsduo, es gibt einen Neuanfang.“ Sie setzt auf „Zukunftsthemen“, etwa Kita-Politik oder die Veränderungen der Arbeitswelt durch Digitalisierung. In der Landespartei will sie mehr Teamarbeit und „dicht an den Themen bleiben, die im Alltag der Menschen wichtig sind“. Dazu gehöre der Mut, Positionen zu ändern, wenn die sich als falsch erweisen. Und ihr Beispiel soll andere ermutigen, sich politisch zu engagieren: „In der SPD ist Platz für alle, und der Weg nach oben ist offen.“

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