Politologin über Migranten in Parteien: „Nicht nur alte weiße Männer“

Migrant*innen können für Konflikte sorgen, wenn sie neu in eine Organisation kommen. Sie brechen Strukturen auf, die schon immer so waren.

Cansu Özdemir zieht an einer roten Decle und enthüllt ein Plakat der Linken

Die einzige Spitzenkandidatin mit Migrationshintergrund: Cansu Özdemir Foto: Christian Charisius/dpa

taz: Frau Zenzile Roig, wie erkennt man, ob Kandidat*innen mit Migrationshintergrund für ihre Parteien nur Aushängeschilder sind?

Emilia Zenzile Roig: Indem man in die Wahlprogramme schaut. Wenn Themen wie soziale Gerechtigkeit in Bezug auf Migration nicht auftauchen, können wir davon ausgehen, dass die Kandidat*innen, die dieser Gruppe angehören, Tokens sind.

Meinen Sie mit Tokens Symbole?

Ja. Tokenismus bedeutet, dass eine Organisation nur eine symbolische Anstrengung unternimmt, um Angehörige von Minderheitengruppen einzubeziehen. Die Diversität wird von innen nicht gelebt.

In Hamburg werden den Prognosen nach weniger als zehn Prozent der Bürgerschaftsabgeordneten einen Migrationshintergrund haben. In der Stadtgesellschaft sind es 34 Prozent. Kann man davon auch auf Tokenismus schließen?

Es wäre auf jeden Fall eine Unterrepräsentation. Ob es sich um Fälle von Tokenismus handelt, lässt sich nur anhand von Zahlen nicht festmachen. Es ist möglich, dass eine Partei noch nicht so viele Angehörige von Minderheiten hat, aber dennoch bereit ist, sich zu verändern und diese Themen kritisch zu bearbeiten. Oder ein Gegenbeispiel: Es kann sein, dass es in einer Partei sehr viele Frauen gibt, aber Geschlechtergerechtigkeit trotzdem kein Thema ist und patriarchale Strukturen vorherrschen.

Ist es kritisch, wenn Migrant*innen innerhalb einer Partei immer die Integrations- und Asylthemen übernehmen?

Auch das kann ein Zeichen von Tokenismus sein, wenn Angehörige einer Minderheit unfreiwillig thematisch reduziert werden. Man kann als Wähler*in schauen, ob sich Menschen mit Migrationshintergrund in einer Partei auch zum Haushalt, Klima oder zur Sicherheit äußern. Man muss aber auch einbeziehen, wie Entscheidungen innerhalb der Partei getroffen werden, welche Hierarchie es gibt und inwiefern die Stimmen gehört werden.

Emilia Zenzile Roig,36, ist Politologin und Gründerin und Direktorin des Center for Intersectional Justice in Berlin. Sie gibt unter anderem Diversity-Kurse für Unternehmen und Organisationen.

Kracht es denn auch mal, wenn Migrant*innen das einfordern?

Auf jeden Fall. Wenn die Homogenität in einer Gruppe gestört wird, entstehen immer Konflikte. Die neue Person könnte die Gruppe zum Beispiel darauf aufmerksam machen, dass bisher die Interessen und Perspektiven von Menschen mit Migrationshintergrund keine Rolle gespielt haben oder die Darstellung von Menschen mit Migrationshintergrund sehr stereotyp war. Oder es gibt Micro-Aggressions.

Was ist das?

Wenn eine Person jeden Tag gefragt wird: „Ah, wo kommst du denn her?“,„Wie ist das so in der Türkei?“ oder „War dein Vater gewalttätig, als du klein warst?“ Wenn die Person anspricht, dass das diskriminierend ist, und versucht, solche Strukturen sichtbar zu machen, kommt es zu Konflikten.

Die Mehrheit könnte auch sagen: „Daran haben wir nie gedacht. Ändern wir es.“

Es ist eine Machtfrage. Um das zu akzeptieren, müsste man zugeben, dass die Ursache dafür, dass man bisher so homogen war, Diskriminierung heißt. Niemand will freiwillig zugeben, dass es in seiner Organisation Diskriminierungsmuster gibt. Es gibt einen Widerstand dagegen.

Wie läuft es denn üblicherweise ab, wenn ein Mensch mit Migrationshintergrund in eine neue Organisation kommt?

Wenn es sich um Tokenismus handelt, stellt eine Partei oder ein Unternehmen fest, dass es nicht genügend Menschen mit Migrationshintergrund gibt. Jemand wird eingestellt und es gibt eine erste Honeymoon-Phase. Alle freuen sich über die Vielfalt, die es nun gibt. Aber nach einer Weile möchte die Person nicht nur als Symbol und Objekt behandelt werden, sondern als Subjekt, mit eigenen Einstellungen und Perspektiven. Sie weist vielleicht darauf hin, dass die Positionen, die eine Partei beim Thema Innere Sicherheit hat, rassistisch sind.

Und dann gibt es Ärger?

Genau. Das Problem ist, dass die Person, weil sie in der Minderheit ist, nicht die Macht hat, um sich durchzusetzen. Was dann passiert, ist, dass die Probleme personifiziert werden. Sie ist zu empfindlich, nicht objektiv genug, es ist eine Fehleinschätzung. Wenn der Druck zu stark wird, kann sie entweder die Organisation verlassen, sie wird gefeuert oder muss nachgeben und sich der homogenen Mehrheitsgruppe anpassen. Das Problem ist, dass die Organisation nicht bereit ist, sich infrage zu stellen und die eigenen Strukturen zu überdenken.

Gibt es diese Probleme in allen Parteien? Grüne, Linke und auch die SPD bemühen sich ja darum, sich für Menschen mit Migrationshintergrund zu öffnen.

Das trifft alle Parteien. Es gibt natürlich in den Parteien, die Sie genannt haben, ein kollektives Bewusstsein für Diskriminierungen und auch den Willen, um Veränderungen voranzutreiben, aber auch immer Widerstand. Zum Beispiel über eine Verneinung: „Unsere Werte sind Gleichheit und Freiheit, deshalb gibt es bei uns keine Diskriminierung.“ Die Veränderung kann aber erst eintreten, wenn es ein Bewusstsein dafür gibt, dass es gar nicht möglich ist, keine Vorurteile zu haben.

Liegt das in der Natur des Menschen?

Nein, aber diese Vorurteile haben sich über Jahrhunderte gebildet. Wir alle haben sie. Auch schwarze Menschen, jüdische Menschen, arabische Menschen haben selbst Vorurteile gegenüber ihrer eigenen Gruppe. Wichtig ist es, dass man zugibt, dass man sie hat, weil man sie sonst nicht dekonstruieren kann.

Was sind Strukturen, die in Parteien diskriminierend wirken?

Etwa die Machtverteilung. Wenn eine Partei Personen für Machtpositionen wählt, gibt es dabei keine Neutralität.

Weil Menschen eher Menschen wählen, die ihnen ähnlich sind?

Ja, und weil Menschen die Menschen wählen, die in ihren Augen die Werte Macht, Kompetenz und Vertrauen ausstrahlen. Aber diese Werte sind rassifiziert. Wir haben Assoziationen mit diesen Worten. Und wenn wir eine schwarze, junge Frau sehen, assoziieren wir nicht Macht, Kompetenz und Vertrauen. Es muss erst einen Bewusstwerdungsprozess geben, in dem wir das dekonstruieren. Wir müssen sehen, dass nicht nur alte, weiße Männer in der Lage sind, politische Führungspositionen auszufüllen.

Dann hat es Signalwirkung, dass die Linke in Hamburg als einzige Partei mit Cansu Özdemir eine Spitzenkandidatin mit Migrationshintergrund hat?

Absolut. Es ist wichtig, dass solche Frauen, die für sich stehen, die zeigen, dass sie Macht und Verantwortung übernehmen und die bestehende Strukturen zerstören, sichtbar sind.

Mehr zum Thema Migrant*innen in der Hamburger Politik lesen Sie in der aktuellen Wochenendausgabe der taz nord oder am E-Kiosk.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.