Versuch einer Abschiebung: Über die rote Linie
Eine schwer traumatisierte Albanerin und ihre Familie aus Bremerhaven sollten abgeschoben werden. Vorläufiges Ende der Aktion: ein Suizidversuch.
BREMEN | taz | Am Dienstag um sechs Uhr früh standen unangekündigt sechs Polizisten, Mitarbeiter der Ausländerbehörde und ein Arzt vor der Tür von Arjona S.* Der Asylantrag der 45-Jährigen, ihres Mannes und der elf und 17 Jahre alten Söhne war abgelehnt worden, die Familie sollte nach Albanien abgeschoben werden.
Als Arjona begriff, was geschah, nahm sie ein Messer und versuchte, sich die Pulsadern und ihren Bauch aufzuschneiden. Sie hielt das Messer so fest umklammert, dass ein Finger zerschnitten wurde, als ein Polizist es ihr entriss. All das geschah vor den Augen ihrer Kinder.
Sabine V.*, eine Freundin von Arjonas 19-jähriger Tochter, die als Auszubildende vorerst in Deutschland „geduldet“ ist, berichtet, dass Arjona mittlerweile in eine psychiatrische Klinik verlegt wurde. „Sie leidet unter PTBS, also einer posttraumatischen Belastungsstörung“, sagt V. Mehrmals habe Arjona bereits versucht, sich zu töten.
Das sei aktenkundig – auch beim Gesundheitsamt, das für ein Gutachten über die „Reisefähigkeit“ Arjonas dann auch einen Amtsarzt beauftragte. In seiner Stellungnahme habe der festgestellt, dass sie suizidgefährdet sei, „aber darauf, ob sie reisefähig ist, hat er sich nicht festgelegt und damit der Ausländerbehörde die Entscheidung überlassen.“
Und die lautete: Mit Begleitung eines Arztes und unter Sicherstellung der „Inempfangnahme“ durch einen Arzt in Albanien sei Arjona reisefähig. „Blanker Hohn“, sagt V. „Sie ist den Gegebenheiten des Landes ausgeliefert – daran ändert kein Arzt am Flughafen etwas.“
Der Bremerhavener Arbeitskreis Migration und Flüchtlinge ist über den Fall entsetzt: „Die Ausländerbehörde hat eine rote Linie überschritten – eine blutige“ schreibt er in einer Stellungnahme. Der Arbeitskreis fordert dienstrechtliche Konsequenzen bei Gesundheits- und Ausländeramt. Aus Sicht der Behörde ist hier freilich nichts falsch gelaufen: Die Familie habe sich bereit erklärt, freiwillig auszureisen, sagt Magistratssprecher Volker Heigenmooser, aber wiederholt Termine bei der Rückkehrberatung der AWO nicht wahrgenommen. „Deswegen sollte die Abschiebung erfolgen.“ Darüber hinaus habe das Gesundheitsamt die Ausländerbehörde durchaus auf die Suizidgefahr von Arjona S. aufmerksam gemacht, „deswegen sollte sie ja auch ein Arzt begleiten“.
Nach dem Asylpaket II gelten als Abschiebehindernis nur noch „lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden“. Damit sind körperliche, nicht aber psychische Erkrankungen gemeint – auch nicht PTBS.
Laut Gesetzgeber handelt es sich dabei nicht „regelmäßig“ um eine schwerwiegende Erkrankung. Somit soll ein Abschiebehindernis nur dann gegeben sein, wenn bei PTBS „die Abschiebung (…) zu einer wesentlichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung“ führt. Dass das bei Arjona S. der Fall ist, hat ihr bis Dienstag früh offenbar niemand geglaubt.
* Namen geändert
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Emotionen und politische Realität
Raus aus dem postfaktischen Regieren!