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Verstoß gegen AntidiskriminierungsgesetzWeiterschubsen statt fördern

Berliner Schü­le­r:in­nen dürfen das Schuljahr freiwillig wiederholen. Doch Kinder mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ sind ausgenommen.

Kein Pandemievorteil: Manche Schü­le­r:in­nen dürfen nicht freiwillig wiederholen Foto: dpa

Berlin taz | Das Berliner Schulgesetz benachteiligt geistig behinderte Schü­le­r:in­nen beim freiwilligen Wiederholen und verstößt damit gegen das Antidiskriminierungsgesetz des Landes. Zu diesem Schluss kommt die unabhängige Ombudsstelle, die über die Einhaltung des Gesetzes wacht, in einer aktuellen Stellungnahme. Sie liegt der taz exklusiv vor. Darin heißt es: „Die freiwillige Wiederholung einer Jahrgangsstufe ist für viele Schü­le­r:in­nen mit einer Behinderung ausgeschlossen.“ Dies stelle eine Ungleichbehandlung gegenüber allen Schü­le­r:in­nen dar, die keine Schule mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ besuchen. „Die Benachteiligung liegt insbesondere darin, dass die Schü­le­r:in­nen mit Behinderungen aufgrund der pandemiebedingten Situation an den Schulen etwaige Lernrückstände nicht nachholen können/dürfen.“

Das Abgeordnetenhaus hatte im Februar beschlossen, dass Schü­le­r:in­nen von Klasse eins bis zehn in diesem Schuljahr freiwillig sitzenbleiben dürfen, um den besonderen Umständen in diesem Schuljahr Rechnung zu tragen und ihnen Gelegenheit zu geben, pandemiebedingte Nachteile auszugleichen. In der Verordnung vom März hatte die Senatsverwaltung für Bildung jedoch Kinder an Schulen mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ ausdrücklich ausgenommen. Für sie ist keine Wiederholung der Jahrgangsstufe möglich, „weil die Schule nicht in Jahrgangsstufen organisiert ist“, so die Begründung. Förderschulen für Kinder mit geistigen Einschränkungen sind in fünf Stufen organisiert. Die Schü­le­r:in­nen rücken laut Sonderpädagogikverordnung nach dem Lebensalter vor, „da die Ausprägung ihrer Beeinträchtigungen und Behinderungen keine sinnvolle Normorientierung zulassen“.

Die Beauftragte für Menschen mit Behinderung, Christine Braunert-Rümenapf, hält die Begründung des Senats für „absurd“. Der taz sagte sie: „Gerade Schü­le­r:in­nen mit Behinderung, die aufgrund des Pandemiegeschehens zusätzlich einem Nachteil ausgesetzt sind, sollen von der freiwilligen Wiederholungsmöglichkeit ausgeschlossen werden. Und zwar nur aufgrund der Organisation der Schulform. Diese Regelung muss verändert werden.“ Menschen mit Behinderung seien doch besonders auf Unterstützungsangebote angewiesen, so die Beauftragte.

Wie die Bildungsverwaltung im Juni in einer Antwort auf eine Anfrage der FDP mitteilt, lernen derzeit 2.638 Schü­le­r:in­nen in Schulen oder Klassen mit dem sonderpädagogischen Schwerpunkt „Geistige Entwicklung“. Auch im Einzelfall, beispielsweise auf Vorschlag der Klassenlehrer, sei eine Wiederholung für sie ausgeschlossen, heißt in der Antwort, die der taz ebenfalls vorliegt. Für den behindertenpolitischen Sprecher der FDP-Fraktion, Thomas Seerig, ist das sachlich nicht begründbar. „Der Senat redet gern von der individuellen Förderung der Kinder. Die Praxis sieht anders aus. Die Wiederholung der Klasse wird im Falle von Förderbedarf ‚Geistige Entwicklung‘ kategorisch ausgeschlossen.“ Das sei Schema F statt Vertrauen in die Fachleute, so Seerig. Auch er sieht einen klaren Verstoß gegen das Landesdiskriminierungsgesetz.

Aufrücken in gewöhnlichen Zeiten

Weitere 1.662 Schü­le­r:in­nen mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ lernen in Regelklassen. Sie dürfen – anders als ihre Mit­schü­le­r:in­nen an den Sonderschulen – in diesem Jahr freiwillig wiederholen. Doch auch hier gibt es Ausnahmen.

Das Angebot, freiwillig zu wiederholen, gilt für Grund­schü­le­r:in­nen erst ab dem Ende der Schulanfangsphase. Das heißt, ab der zweiten oder an einigen Schulen ab der dritten Klasse. Kinder, denen Förderbedarf „Geistige Entwicklung“ attestiert wurde und die noch nicht das Ende der Schulanfangsphase erreicht haben, könnten das Nachsehen haben. Denn während „normal“ entwickelte Kinder auf Antrag auch ein Jahr länger in der Schulanfangsphase verweilen dürfen, müssen Kinder mit dem Förderstatus „Geistige Entwicklung“ laut Sonderpädagogikverordnung in gewöhnlichen Zeiten ihrem Alter gemäß weiter aufrücken.

Als „geistig behindert“ gilt auch Benni. Der Zweitklässler besucht eine inklusive Schule in Kreuzberg. Die Schulanfangsphase umfasst hier die Klassen eins bis drei. In seiner jahrgangsgemischten Klasse fällt kaum auf, dass er erst mit acht Jahren lesen lernt. Er sei ein gut gelaunter Junge, der von seinen Mitschülern geschätzt werde, heißt es auf seinem Zeugnis. Die Eltern beantragten den Behindertenausweis für Benni auf Anraten der Schule kurz nach der Einschulung. So erhalte die Schule zusätzliche Stellen und Benni könne besser gefördert werden, hieß es damals.

Lieber noch ein Extrajahr

Dann kam die Coronapandemie: Klassen wurden geteilt, Unterricht fiel aus und Förderangebote fielen weg. Auch Bennis Eltern wollten, dass ihr Sohn die zweite Klasse wiederholt. Seine Leh­re­r:in­nen unterstützten sie dabei, denn „durch den pandemiebedingten Unterrichtsausfall konnte eine umfängliche Förderung, so wie es der Regelunterricht bietet, nicht stattfinden“. So steht es im Protokoll des Beratungsgesprächs. Doch die Senatsverwaltung für Bildung lehnte den Antrag mit dem Verweis darauf ab, dass sich der Junge noch nicht am Ende der Schulanfangsphase befindet. Und die Schule teilte den Eltern bereits mit, dass Benni im nächsten Jahr nicht verweilen dürfe, sondern weiter aufrücken müsse. Ohne die Gelegenheit, noch ein Extrajahr in der Schulanfangsphase zu bleiben wie seine nicht behinderten Mitschüler:innen.

Auf Anfrage der taz teilte die Senatsverwaltung mit, dass die Ungleichbehandlung nicht diskriminierend, sondern sachlich durch die Organisationsform begründet sei: „Schülerinnen und Schüler, die keiner Jahrgangsstufe zugeordnet sind (dies betrifft die Schulen mit dem sonderpäd. Förderschwerpunkt GE), können auch keine Jahrgangsstufe wiederholen.“

Dass Benni im Laufe des kommenden Schuljahres das durch die Pandemie Versäumte aufholt, bezweifeln seine Eltern. Auch in solchen Fällen könnte eine mittelbare Diskriminierung vorliegen, meint die Behindertenbeauftragte Braunert-Rümenapf. Sie will sich noch in dieser Woche an Bildungssenatorin Sandra Scheeres, SPD, wenden.

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