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Verschwörungstheorien und CoronaAlternative Wahrheitssucher

Der Drang, die Mächte zu entlarven, die hinter allem stecken, hat alternative Bewegungen schon vor Corona begleitet.

Es ist gar nicht so einfach, den Überblick zu behalten Foto: Jean Bizimana/reuters

I n diesen Tagen sind die Menschen verständlicherweise gereizt. Man tut gut daran, sich über jedes Lächeln zu freuen und nicht jeden Anraunzer auf die Goldwaage zu legen (in Berlin kam man anders ohnehin noch nie weiter).

Aber es ist nicht nur deswegen, weil jeder von uns gerade seinem ganz persönlichen Stresstest unterzogen wird, dass wir mit denen nachsichtig sein und freundlich bleiben sollten, die für eine unerhörte Lage bei überkommenen, ja abgeschmackten Welterklärungen Rettung suchen. Die – gar nicht so vielen – LeserInnenbriefe etwa, in denen eine „mainstreamige Berichterstattung zum Coronavirus“ moniert wird, die uns und anderen Medien den Kotau vor den Interessen dunkler Mächte im Hintergrund vorwerfen: Sie sind ein Aufschrei der Verlorenen, die toten Äste am Baum der Entwicklung kritischen Denkens. Wenn Thomas Mann in seinem berühmten Essay von „Bruder Hitler“ sprechen konnte, dann müssten wir – wenn wir es denn gerade nur dürften! – die „Geschwister Verschwörungs­theo­re­ti­ker“ liebevoll in den Arm nehmen und ihnen wie gerade unseren Kindern zärtlich ins Ohr flüstern: „Habt keine Angst: Wir schaffen das.“

Und das, obwohl wir dessen selbst keineswegs sicher sein können; obwohl wir selbst manchmal eine Scheißangst haben: Aber Erwachsensein macht nun mal aus, in der Krise von sich selbst absehen zu können; die eigenen Marotten, Wünsche und Neurosen in den Griff zu bekommen und seine Kräfte für andere, für Schwächere zu mobilisieren.

Zu diesem Erwachsensein gehört zweifellos, für Grundrechte auch in Zeiten der Pandemie einzutreten oder politischen Druck auszuüben, damit die EU endlich Solidarität und Vernunft zeigt, ob mit der Einführung von Eurobonds oder der Evakuierung der Flüchtlingsstraflager in Griechenland. Und dazu gehört auch, jedem übereifrigen Polizisten oder Blockwart in der Nachbarschaft mit Hinweis auf Vernunft und gutes Benehmen zu begegnen.

Es ehrt den Menschen, dass er nach Erkenntnis strebt. Wer aber, anstatt in den Spiegel zu gucken, immer nur sucht, was dahinter sich vermeintlich verbirgt, verliert sich selbst. Das Virus ist real, und die Maßnahmen zum Schutz von uns allen liegen an der unteren Schwelle des epidemiologisch angezeigten. Bleiben Sie also bitte gesund – auch seelisch.

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Ambros Waibel
taz2-Redakteur
Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.