Verschobene Richterwahl: Patt zwischen Union und SPD
Die SPD steht zur nominierten Verfassungsrichterin Brosius-Gersdorf, in der Union fehlt die Mehrheit. Sie selbst hält einen Verzicht für möglich.

Die Staatsrechtlerin, die vom Richterwahlausschuss des Bundestags zusammen mit zwei weiteren Personen als Richterin für das Bundesverfassungsgericht vorgeschlagen wurde, ist zur Zielscheibe einer Hetzjagd geworden, die von selbsternannten Lebensschützer:innen orchestriert wurde. Anlass ist Brosius-Gersdorfs Position zum Schwangerschaftsabbruch. Wer abtreibt, setzt sich nach aktueller Rechtsprechung grundsätzlich ins Unrecht, die Juristin befürwortet eine Legalisierung in den ersten 12 Wochen der Schwangerschaft. Wegen dieser Position ist sie für eine höhere zweistellige Zahl von Unionsabgeordneten nicht wählbar, sodass die Wahl der Verfassungsrichter:innen am vergangenen Freitag auf unbestimmte Zeit verschoben wurde.
Brosius-Gersdorf beantwortete bei Lanz erstmals öffentlich Fragen zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen, stellte falsche Behauptungen richtig, aber auch einen Verzicht auf ihre Kandidatur in Aussicht. Sobald drohe, dass das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts Schaden nehme, würde sie an ihrer Nominierung nicht festhalten. „Ich möchte auch nicht verantwortlich sein für eine Regierungskrise in diesem Land“, sagte sie.
In den Anfängen einer solchen steckt die schwarz-rote Koalition bereits. Obwohl Kanzler Friedrich Merz im ARD-Sommerinterview die Bedeutung des Falls heruntergespielt hatte – das sei kein Beinbruch, auch keine Krise –, herrscht zwischen Union und SPD ein Patt. Der Geschäftsführende Fraktionsvorstand der Union traf sich am Dienstag. Beobachter sehen weiterhin keine Mehrheit für Brosius-Gersdorf und auch keine Chance auf eine solche. CSU-Chef Markus Söder forderte Brosius-Gersdorf zum Verzicht auf ihre Kandidatur auf, es „lag kein Segen drauf“. Durch die Blume sagte dies auch Bundesforschungsministerin Dorothee Bär.
„Rückzug würde der Demokratie schaden“
Die SPD stehe dagegen weiterhin „uneingeschränkt“ hinter Brosius-Gersdorf, so Fraktionsvorsitzender Matthias Miersch in einem am Mittwoch versandten Brief an die Fraktion. „Ihr gestriger Auftritt hat gezeigt, warum sie auch die Unionsvertreter:innen im Richterwahlausschuss überzeugt hat“, schreibt Miersch.
Brosius-Gersdorf sei eine herausragende Staatsrechtslehrerin und Wissenschaftlerin, die mit ihrem klugen, differenzierten Blick maßgeblich zu wichtigen verfassungsrechtlichen Diskussionen in unserem Land beitrage, erklärte auch SPD-Fraktionsvize Sonja Eichwede gegenüber der taz. „Dabei vertritt sie ausgewogene Positionen. Genau das ist die Aufgabe unabhängiger und verantwortungsvoller wissenschaftlicher Arbeit und qualifiziert sie auch für die wichtige Arbeit am Bundesverfassungsgericht“, so Eichwede, die selbst Richterin ist.
Die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen, Maria Noichl, sagte zur taz, die SPD müsse „ohne Wenn und Aber“ an Brosius-Gersdorf festhalten. Ein Rückzug von Frau Brosius-Gersdorf würde nur der Demokratie schaden. „Faschisten, Teile der CDU/CSU und Hardliner-Christen würden ihren Rückzug als Erfolg im Netz und auf der Straße beklatschen. Wenn zu Unrecht beschmutze Menschen, um Schaden abzuwenden, Bewerbungen zurückziehen, wird dieses System Schule machen.“
Direktes Gespräch zwischen Union und Brosius-Gersdorf?
Immerhin sind sich Union und SPD einig, dass kein Zeitdruck herrsche. Hinter den Kulissen wird weiter um eine Lösung gerungen. Das Angebot der SPD und von Brosius-Gersdorf, sie persönlich einzuladen, hat die Union bislang nicht angenommen. Doch Miersch ist zuversichtlich: „Ich gehe davon aus, dass die Unionsführung jetzt den persönlichen Austausch mit Frau Prof. Dr. Brosius-Gersdorf suchen wird.“
Der von der Union am Freitag in letzter Sekunde ins Feld geführte und am selben Tag zurückgenommene Plagiatsvorwurf wird wohl keine entscheidende Rolle mehr spielen. Es geht um eine identische Textstelle in der Dissertation von Brosius-Gersdorf und der Habilitation ihres Mannes. In einem von Brosius-Gersdorf selbst in Auftrag gegebenen Kurzgutachten kommt die Kanzlei Quaas und Partner zu der Einschätzung, dass die Übereinstimmungen keinen Plagiatsvorwurf begründen. Wenn überhaupt hätte Herr Gersdorf wohl eher bei seiner Frau abgeschrieben, da dieser sein Manuskript später fertiggestellt hatte.
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