Verordnungen der Länder: Die Corona-Kakophonie

Die Ministerpräsident:innen der Bundesländer hatten sich mit der Kanzlerin auf Corona-Regeln geeinigt. Doch in der Praxis interessiert sie das wenig.

Menschen vor einem Schaufenster mit großem Schriftzug "2021" se´tehen in Abstand zueinander

Neues Jahr, alte Uneinheitlichkeit bei Corona-Regeln Foto: Stefan Boness/Ipon

BERLIN taz | Es ist die signifikanteste Änderung der bisherigen Corona-Regeln. Am 5. Januar vereinbarten die Ministerpräsident:innen mit der Bundeskanzlerin: „In Erweiterung der bisherigen Beschlüsse werden private Zusammenkünfte im Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstandes und mit maximal einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person gestattet.“ So steht es in ihrem Beschluss. Das wäre eine drastische Einschränkung der erlaubten privaten Kontakte. Aber wie setzen die Bundesländer diese etwas eigentümliche Verabredung um?

Eigentümlich ist der Beschluss der Regierungsschef:innen deswegen, weil er einen logischen Widerspruch enthält: Dem Wortlaut nach könnte sich zwar ein Paar mit einem Bekannten treffen, aber der Bekannte nicht mit dem Paar. Denn sonst käme er ja mit zwei Personen aus einem anderen Hausstand zusammen. Was nicht erlaubt wäre.

Erstaunlich ist, dass nur Niedersachen dieses Problem erkannt zu haben scheint. Das Land erlaubt deswegen in seiner aktuellen Corona-Verordnung als einziges einer Einzelperson, sich „mit mehreren Personen aus einem gemeinsamen Hausstand“ aufzuhalten. Alle anderen Bundesländer beschränken sich hingegen betriebsblind auf die Ein-Hausstand-plus-eine-Person-Regel.

Das heißt allerdings keineswegs, dass nun überall das Gleiche gilt. Denn äußerst uneinheitlich beantworten die Länder die Frage, inwiefern in diese Regel auch Kinder einbezogen werden sollen. Hamburg, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen und das Saarland sehen für sie keine Ausnahmen vor. In Bayern werden hingegen Kinder bis zur Vollendung des 3. Lebensjahres nicht mitgezählt, in Rheinland-Pfalz bis 6 Jahre, in Baden-Württemberg und Brandenburg sind sogar noch 14-Jährige ausgenommen.

Keine Spur von Einheitlichkeit

In Bremen liegt die Grenze bei 12 Jahren, wobei sich bis zu diesem Alter Gruppen von Kindern ohne Mengenbeschränkung treffen dürfen. In Mecklenburg-Vorpommern werden ebenfalls Kids nicht mitgezählt, wenn sie 12 Jahre oder jünger sind – aber nur dann, „wenn dies aus Gründen der Betreuung des Kindes erforderlich ist“. Und in Berlin werden ausschließlich die bis 12-Jährigen von Alleinerziehenden nicht mitgerechnet.

Bemerkenswert ist, dass die Bundesländer auch keine einheitlichen Lösungen für die Vereinbarkeit der Ein-Hausstand-plus-eine-Person-Regel mit den Notwendigkeiten der Kinderbetreuung haben. So erlauben Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen oder das Saarland die wechselseitige „unentgeltliche, nicht geschäftsmäßige Beaufsichtigung“ von Kindern unter 14 Jahren „in festen, familiär oder nachbarschaftlich organisierten Betreuungsgemeinschaften“ – und zwar unter der Voraussetzung, dass sie „Kinder aus höchstens zwei Hausständen umfasst“. Bis zu drei Familien darf eine solche Betreuungsgemeinschaft in Hessen umfassen, „wenn die sozialen Kontakte im Übrigen nach Möglichkeit reduziert werden“.

In etlichen Landesverordnungen finden sich erst gar keine Festlegungen zu der Größe von Betreuungsgemeinschaften, ja nicht einmal der Begriff taucht auf. Aber dafür gilt in Niedersachsen immerhin die generelle Kontaktbeschränkung nicht beim Bringen und Abholen von Kindern und Jugendlichen zu und von Kitas oder Schulen – eine Ausnahme, die anderswo fehlt.

Warum für Kinder und Eltern von Bundesland zu Bundesland Unterschiedliches gilt, erschließt sich weder auf den ersten, noch den zweiten Blick. Mit dem jeweiligen Infektionsgeschehen lässt sich das jedenfalls nur schwerlich rechtfertigen.

Chaos auch bei Bewegungsbeschränkungen

Aber das sind nicht die einzigen Fragen, auf die die Länder ungleiche Antworten geben. Eine weitere nicht unbedeutende: Bezieht sich die verbindliche Beschränkung privater Kontakte nur auf den öffentlichen Raum oder soll sie bis in die eigenen vier Wände reichen, also in die unmittelbare Privatsphäre?

In Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz beschränkt sich die verordnete Kontaktbegrenzung nur auf öffentliche Orte. Das Saarland und Thüringen verzichten auf eine Differenzierung, während Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Hamburg, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Bremen explizit auch Privaträume mit einbeziehen. Wobei Hamburg auch ausdrücklich Fahrzeuge miteinschließt, wenn sie „zum Zwecke der Freizeitgestaltung“ genutzt werden.

Noch eine weitere Bund-Länder-Vereinbarung sorgte für heftige Diskussionen: Dass die Länder in Landkreisen mit einer 7-Tages-Inzidenz von über 200 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner:innen „weitere lokale Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz ergreifen, insbesondere zur Einschränkung des Bewegungsradius auf 15 km um den Wohnort“.

Auch hier haben es die Landesregierungen nicht vermocht, sich in der Praxis auf eine gemeinsame Linie zu verständigen. In den Verordnungen der meisten Länder steht zwar nun der eingeschränkte Bewegungsradius für den Fall einer hohen 7-Tage-Inzidenz. In Baden-Württemberg, Berlin, Bremen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen jedoch nicht. Wobei sich in NRW vier Hotspot-Kreise am Montag trotzdem dafür entschieden.

Eine Frage der Philosophie?

In Bayern und im Saarland sind den Einwohner:innen der betreffenden Landkreise oder kreisfreien Städte nur touristische Tagesausflüge untersagt. Und in Thüringen sind die Bürger:innen nicht verpflichtet, sondern bloß „angehalten“, sich innerhalb einer Entfernung von nicht mehr als 15 Kilometer vom Wohnort zu bewegen. Sie müssen sich also nicht daran halten. Wer von Erfurt aus einen Ausflug nach Leipzig machen will, kann das machen. Umgekehrt ist das nicht erlaubt. Nachvollziehbar ist ein solcher Flickenteppich nicht.

Wie erklären sich die zahlreichen Unterschiede zwischen den Ländern bei anscheinend klarer gemeinsamer Beschlusslage? Dahinter könnten eine divergierende „Philosophie“ stehen: Geht es um die praktische Umsetzbarkeit einer Anordnung oder ist sie weitgehend nur symbolisch zu verstehen?

Die Corona-Verordnungen leiden darunter, dass mit ihnen – mal mehr, mal weniger – ein schwieriger Spagat versucht wird: Sie sollen einerseits eine juristische Grundlage für staatliches Handeln geben, aber andererseits auch einen propagandistisch-aufklärerischen Zweck erfüllen – im vollen Bewusstsein, dass die Nichteinhaltung bestimmter Anordnungen eben kein staatliches Handeln zur Konsequenz haben wird. Die Bürger:innen sollen so zu einem besonnenen Verhalten animiert werden, zu dem sie ohne die Drohung möglicherweise nicht bereit wären. Für die gute Sache wird mit dem autoritären Charakter potentieller Verweigerer:innen gespielt.

Das hat zur Folge, dass manche Regeln tatsächlich als verbindlich zu verstehen sind, andere jedoch eigentlich nur als bloße Appelle. Eklatantes Beispiel dafür sind die Ausgangsbeschränkungen in mehreren Bundesländern, unter anderem in Bayern oder Baden-Württemberg.

Folgenlose Ausgangssperre

Auch in Berlin gibt es eine entsprechende Regel. „Das Verlassen der eigenen Wohnung oder gewöhnlichen Unterkunft ist nur aus triftigen Gründen zulässig“, heißt es seit dem 10. Dezember in der dortigen Landesverordnung.

Doch der Großteil der Hauptstadtbewohner:innen dürfte davon erst erfahren haben, als ausgerechnet Berlins Justizsenator Dirk Behrendt Anfang des Monats öffentlich die Aufhebung dieser „härtesten Grundrechtseinschränkung in der Geschichte der Bundesrepublik“ forderte, weil sie „juristisch zweifelhaft und für die Pandemie-Bekämpfung überflüssig“ sei.

„Die Ausgangssperre zwingt die Berliner Bevölkerung, sich zur Wahrnehmung ihrer grundlegenden Handlungsfreiheit gegenüber staatlichen Stellen zu rechtfertigen“, wetterte der Grüne – durchsetzen konnte er sich jedoch nicht. Die seit dem 10. Dezember geltende Ausgangsbeschränkung steht auch in der aktuellen Berliner Corona-Verordnung.

Den Berliner:innen kann es wurscht sein. Denn der von Behrendt kritisierte Grundrechtseingriff steht nur auf dem Papier, bleibt praktisch folgenlos. Sie müssen sich keineswegs vor Polizist:innen rechtfertigen, was sie gerade auf der Straße machen – weil diese sie aus gutem Grund nicht behelligen. Nicht nur, dass die Beamt:innen mit solchen Kontrollen schon rein mengenmäßig völlig überfordert wären, sie würden sich auch schnell zu Lachnummern machen.

Höchste Zeit für eine einheitliche Linie

Der einfache Grund: die zahlreichen „triftigen Gründe“, die der Senat aufführt, wegen denen man dann doch noch die Wohnung verlassen darf: von den „Besorgungen des persönlichen Bedarfs“ über die Teilnahme an „privaten Zusammenkünften“ bis zur „Bewegung im Freien“. Die verordnete Ausgangsbeschränkung hat also – zum Glück – real nur akklamatorischen Charakter. Es wirkt nicht gerade wie eine besonders kluge Idee, aus Gründen der Volkspädagogik mit Grundrechtseingriffen zu spielen.

Ähnlich verhält es sich mit der neuen Ein-Hausstand-plus-eine-Person-Regel. Glaubhaft versichern alle Landesregierungen unisono, dass sie nicht beabsichtigen, zur Kontrolle Polizist:innen die Wohnungen der Republik stürmen zu lassen. Warum ein Großteil der Länder trotzdem Privaträume in den rechtlichen Wirkungsbereich der Kontaktbeschränkung einbeziehen, lässt sich nur volkspädagogisch motiviert erklären.

Das Problem: Auch die Unverletzlichkeit der Wohnung ist ein hohes grundgesetzlich geschütztes Gut, mit dem nicht leichtfertig umgegangen werden darf. Das bedeutet: Ein jeglicher Eingriff darf ausschließlich dann angeordnet werden, wenn er als unabdingbar notwendig erachtet wird – dann aber muss er auch durchgesetzt werden.

Anders als im Sommer und Herbst, wo es zwischen den Landesregierungen noch erhebliche Differenzen in der Einschätzung der Entwicklung der Pandemie gab, scheinen mittlerweile alle Ministerpräsident:innen die Dramatik der Lage erkannt zu haben. „Ich habe mich von Hoffnung leiten lassen, was sich jetzt als bitterer Fehler zeigt“, hat Thüringens linker Ministerpräsident Bodo Ramelow mit erfreulicher Klarheit eingestanden.

Allerdings fehlt es den Ministerpräsident:innen immer noch an einer konsistenden gemeinsamen Linie der Krisenbewältigung. Es ist ihnen nicht gelungen, einheitliche Standards zu definieren. Stattdessen herrscht eine Regelkakofonie. Das reicht von der divergierenden Umsetzung der unstimmigen Kontaktbeschränkungen bis zum desatrösen Schulchaos. Bei vergleichbarem Infektionsgeschehen ist es jedoch unverständlich, dass in einem Land erlaubt ist, was im anderen verboten. Und umgekehrt.

Die Eingriffe des Staates in das Alltagsleben der Menschen sind ohne Zweifel gravierend. Die Akzeptanz dafür ist angesichts der hohen Infektions-, vor allem jedoch der fatalen Todeszahlen ebenfalls derzeit noch groß. Das ist gut und richtig so. Doch das wird nur so bleiben, wenn die Einschränkungen, denen die Menschen in der Bundesrepublik ausgesetzt sind und auf absehbare Zeit auch bleiben werden, möglichst widerspruchsfrei, plausibel und gerecht erscheinen. Es wäre an der Zeit.

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