Verleumdungsklagen gegen Netflix: Zu falsch, um wahr zu sein?

Der Streaminganbieter Netflix sieht sich wegen Filmbiografien mit Verleumdungs­klagen konfrontiert. Wie frei darf Fiktion mit Wahrheit umgehen?

Vier Frauen stehen nebeneinander.

Katie Lowes spielt in „Inventing Anna“ die Redakteurin Rachel DeLoache Williams (Zweite von links) Foto: Netflix

Die besten Geschichten schreibt das Leben selbst, lautet eine altbekannte Phrase. Dass dieses Sprichwort nicht immer richtig ist, weiß das Genre der fiktionalen Filmbiografie. Es greift reale Geschehnisse auf und fügt diesen aus dramaturgischen Gründen fiktionale Elemente hinzu. Mit diesem Vorgang geht das auch Biopic genannte Genre grundsätzlich offen um. Trotz der bemühten Transparenz ist das Genre aber konfliktbehaftet: Denn wo Fakt aufhört und Fiktion beginnt, lässt sich für Re­zi­pi­en­t*in­nen nicht immer eindeutig bestimmen. So bemühten Personen, die mit ihrer Darstellung nicht einverstanden waren, zuletzt zivile Verleumdungsklagen gegen den Streaminganbieter Netflix.

Ende August erklärte die ehemalige Vanity-Fair-Fotoredakteurin Rachel DeLoache Williams, Netflix für die Darstellung ihrer Person in der Serie „Inventing Anna“ auf Verleumdung verklagen zu wollen. „Inventing Anna“ ist ein Biopic über die Hochstaplerin Anna Sorokin, die zwei Jahre lang als angebliche Millionenerbin Anna Delvey ein Luxusleben im Kreise und auf Kosten von Superreichen führte – bis sie 2017 wegen des Verdachts auf Betrug und Diebstahl verhaftet wurde und 2019 zu einer Freiheitsstrafe von mindestens vier Jahren verurteilt wurde, aus der sie zwei Jahre später wegen guter Führung wieder entlassen wurde. Mittlerweile sitzt sie wegen Überschreitung ihres Visums erneut im Gefängnis. Berühmt wurde der Fall von Sorokin durch eine im Jahr 2018 veröffentlichte Reportage der Journalistin Jessica Pressler. Netflix konnte im Anschluss an das Gerichtsverfahren 2019 die Rechte an der Geschichte von Sorokin erwerben und Pressler als Produzentin und Drehbuchautorin gewinnen. Die Serie erzählt das Geschehen aus Sicht der fiktiven Journalistin Vivian Kent, die stark an Pressler angelehnt ist.

Rachel DeLoache Williams nun gehört zu den Betrugsopfern von Sorokin. Sie hat 2019 ein Buch über ihre Beziehung zur Hochstaplerin veröffentlicht. Der Sender HBO war nach ihrer Aussage an einer Adaption interessiert. In der Netflixserie sieht sich Williams, die namentlich in der Serie genannt wird, als „manipulative und opportunistische Person“ porträtiert. Ihre angekündigte Klage ist der Versuch, die Deutungshoheit über sich zurückzugewinnen. Ihr Anwalt Alexander Rufus-Isaacs berichtete von zahlreichen Anfeindungen durch Fans der Serie, mit denen seine Mandantin seit der Ausstrahlung von „Inventing Anna“ in den sozialen Medien konfrontiert worden sei.

Zwar beginnt Netflix jede Folge mit dem Disclaimer: „Die ganze Geschichte ist vollkommen wahr. Bis auf die Teile, die komplett erfunden sind.“ Trotzdem gelingt es nicht allen, von der Realität zu abstrahieren. Kerstin Schmitt, Rechtsanwältin der Kanzlei Schertz Bergmann, die sich auf Medienrecht spe­zia­lisiert und ähnliche Fälle im deutschsprachigen Raum betreut hat, hält diesen Disclaimer auch für zu unkonkret: „Besser wäre es, den Zuschauer noch mehr an die Hand zu nehmen, wo Fakt aufhört und Fiktion beginnt.“

Nicht die erste Klage gegen Netflix

Williams bezichtigt Netflix, die PR-Arbeit einer Betrügerin zu erledigen. Ob die negative Charakterzeichnung ein ausreichender Grund ist, gerichtlich eine Abfindung zu erzwingen, ist fraglich. „Zumindest im deutschen Recht haben Fil­me­ma­che­r*in­nen bei Ereignissen mit zeitgeschichtlichem Bezug selbstverständlich künstlerische Freiheit, aus welcher Beteiligtenperspektive erzählt wird“, sagt Rechtsanwältin Schmitt dazu. Die deutsche Rechtslage fiktionaler Filmbiografien kommentiert sie wie folgt: „Die Rechtsprechung hat einen szenisch gestuften Wahrheitsanspruch entwickelt. In Szenen, in denen private Ereignisse dargestellt werden, gehe ich als Zu­schaue­r*in im Grundsatz davon aus, dass hier keine faktischen Begebenheiten aufbereitet werden. Hier greift die Vermutung der Fiktionalität. Bei allem, was öffentlich dokumentiert ist, besteht ein Wahrheitsanspruch, da es sich den Zu­schaue­r*innen als historisch gesicherter Geschehenskern darstellt.“

Ein Beispiel für belegbare Falschaussagen bietet die Klage der georgischen Schach-Großmeisterin Nona Gaprindaschwili. Ebenfalls von Rufus-Isaacs repräsentiert verklagte sie Netflix auf 5 Millionen Dollar Schadenersatz, da sie sich in einer bestimmten Szene der auf ihrem Leben basierenden Serien­adaption „Das Damengambit“ auf sexistische und herabsetzende Weise falsch dargestellt empfand. In der Szene, um die es geht, kommentiert ein Radioreporter die Teilnahme Gaprindaschwilis an einer Schachpartie im Jahr 1968 wie folgt: „Das einzig wirklich Außergewöhnliche an ihr ist ihr Geschlecht; und das ist noch nicht einmal ungewöhnlich in Russland. Da ist Nona Gaprindaschwili, sie ist Schachweltmeisterin und hat noch nie gegen einen Mann gespielt.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte Gaprindaschwili jedoch tatsächlich schon gegen mindestens 59 Männer gespielt.

Die US-Bundesrichterin Virginia Phillips aus Los Angeles erklärte die Klage für zulässig, da die Seriendarstellung der Schachgroßmeisterin eine Leistung abspreche, die bedeutend und wichtig für ihren Ruf sei. Fiktionalität, so die Bundesrichterin, befreie nicht von der Haftung für üble Nachrede, solange alle anderen Voraussetzungen des Tatbestands erfüllt sind. Es wäre zur Verhandlung des Falls gekommen, wenn sich die Klägerin und das Unternehmen Netflix nicht Anfang September außergerichtlich auf einen Vergleich geeinigt hätten. Die genauen Details sind nicht bekannt. Die Klage von Rachel DeLoache Williams richtet sich gegen die in privaten Szenen erfolgte Charakterisierung ihrer Person, die die Serie subjektiv aus der Sicht von Sorokin und Pressler erzählt. Diese lassen sich nicht belegen.

Auch wenn es hier also kein juristisches Verbot gibt, bleibt die Frage bestehen, ob es nicht zumindest ein ethisches Gebot sein sollte, real existierende Personen vor fiktiven Zuschreibungen zu schützen, die negative Auswirkungen auf ihren Ruf haben könnten. Dass nicht alle Zu­schaue­r*in­nen die Re­flexions­weite der deutschen Rechtsprechung besitzen, zeigen die Anfeindungen gegen Rachel DeLoache Williams. Weil Strea­ming­dienste im Konkurrenzkampf um Abo­nnen­t*in­nen aber stets um neues attraktives Material ringen, wird eine freiwillige Sorge um den Ruf von Einzelpersonen wohl eher Wunschdenken bleiben.

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