Verkehrswende in den Niederlanden: Auf der Suche nach Konsens
Autofrei light: Die Niederlande setzen zunehmend auf verkehrsberuhigte Städte. Kann so ein friedliches Miteinander auf der Straße entstehen?
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Die Pläne, an denen seit ein paar Jahren gearbeitet wird, sind ein klassisches Beispiel für eine Stadt- und Mobilitätsplanung, die in den Niederlanden hoch im Kurs steht. In der Hauptstadt hat man ihr gleich ein ganzes Programm gewidmet, das passend „Amsterdam autoluw“ betitelt ist. Das Zauberwort autoluw lässt sich in etwa mit verkehrsberuhigt übersetzen und hat in den Niederlanden Konjunktur: Seit die Universitätsstadt Groningen vor 45 Jahren mit dem damals revolutionären „Verkehrszirkulationsplans“ das Durchfahren des Zentrums mit dem Auto verhinderte, sind zahlreiche Städte im In- und Ausland dem Beispiel gefolgt.
Der Unterschied zu vollständig autofreien Gebieten ist simpel: motorisierter Verkehr ist nicht verboten, wird aber durch indirekte Maßnahmen unattraktiv gemacht, während man andere Nutzungen des öffentlichen Raums stimuliert. Im Amsterdamer Jordaan etwa wurden in der schnurgeraden und von zahlreichen Geschäften gesäumten Westerstraat schon vor Jahren ein erheblicher Teil der Parkplätze zu Freiluftbereichen der lokalen Gastronomie umgewandelt. Statt suchender Autos, die früher hier frustriert Runden drehen, sind Teile der Straße nun ein Flanier- und Ausgangsgebiet.
In den umliegenden Gassen bis zu den nahen Grachten springt ein weiterer Aspekt des Autoluw-Konzepts ins Auge: die Kleinwagen der Carsharing-Anbieter, farblich auffallend und räumlich verlässlich am Anfang oder Ende der meisten verbliebenen Parkstreifen platziert. Noch attraktiver wird der Griff zum Share-Auto, wenn man erst mal die Preise auf den Parkautomaten gesehen hat: 7,50 Euro kostet hier die Stunde für Nicht-Anwohner – das ist nicht bloß teures Amsterdam, das ist Steuerungspolitik aus dem Rathaus. Mit dem Ziel: Autos weitgehend aus dem Zentrum halten, um dieses lebenswerter zu machen.
Kernelement des Autoluw-Konzepts
Autoluw bedeutet: Statt auf ein kategorisches Verbot setzt man auf Maßarbeit. Nicht nur in Amsterdam, auch im benachbarten Haarlem, das mit rund 160.000 etwa ein Fünftel der Bewohner*innen der Hauptstadt hat. Besonders gilt dies für das vijfhoek (Fünfeck), ein Altstadtviertel am Rand des Einkaufsgebiets im Zentrum. Letzteres ist schon seit Jahren autoluw, sodass der konstante Fluss von Fahrrädern und Passant*innen nur von gelegentlichen Lieferwagen unterbrochen wird.
Die Breestraat bildet einen der Eingänge zum Fünfeck. Ihr Beginn wird von einem Schild markiert, das auf ein „bewegliches Hindernis“ hinweist. Mitten auf der schmalen Straße steht ein kniehoher, dicker Pfahl, an dessen Ende rote Signalfarbe aufleuchtet. „Bei Grün ein Fahrzeug“, erklärt das Schild den Zugang, darunter eine Nummer für Störungen. Wer sie wählt, bekommt einen Mitarbeiter der Kommune zu sprechen. Die beweglichen Pfähle, erklärt der, sind ein Kernelement des hiesigen Autoluw-Konzepts. Bedient werden können sie, indem man eine spezielle Karte vor den Laser hält. Anzufordern ist diese bei der Stadtverwaltung. Für Anwohner*innen oder Lieferverkehr gibt es Ausnahmen, ebenso für Menschen mit Behinderung – oder in diesen Tagen solche, die auf dem nahen Weihnachtsmarkt beschäftigt sind.
Mitten in besagtem Gebiet liegt das Café Vijfhoek auf einem pittoresken, gepflasterten Platz mit Bäumen und kleinen Häusern. Im Straßenbild fallen nur wenige geparkte Autos auf, Fahrräder passieren dafür alle naselang. Mitarbeiter Ruben van der Horst schließt soeben die Tür auf. Was er von autoluw hält? „Ich bin sehr zufrieden damit. Abends gab es hier doch einigen Verkehr, und manchmal fuhren die Autos auch schnell. Jetzt sind es viel weniger, die diesen idyllischen Ort stören.“
Vorbild in Oslo gesucht
Warum dann aber nicht gleich ein Komplettverbot? Gerade in Deutschland entspinnt sich die hitzige Diskussion oft an der Frage, ob einzelne Straßen, Innenstädte oder auch mal ganz Berlin autofrei sein sollen. Um zu verstehen, warum sich die fahrradliebenden Niederlande herzlich wenig für kategorische Autoverbote interessieren, muss man sich Oslo anschauen. Die norwegische Hauptstadt machte sich nämlich 2018 als erste in Europa daran, ein autofreies Zentrum zu realisieren. Auch aus Amsterdam reiste damals eine interessierte Delegation an und nahm das Projekt in Augenschein. Man stellte fest, dass der Anwohnerinnen- sowie der Lieferverkehr lokaler Unternehmer in Oslo auf diese Weise vor ungelösten Problemen stehen – und die Frage der besten Raumnutzung in stark wachsenden Städten mit einem Autoverbot alleine nicht beantwortet ist.
In Amsterdam wählte man daher einen behutsameren Plan, den man „mit Hilfe der Bewohnerinnen und Unternehmer Schritt für Schritt ausführen“ will, sagt Sharon Dijksma, ehemalige städtische Beigeordnete für Verkehr, Transport und Luftqualität. Die eingangs erwähnte transparente Kommunikation mit den Menschen im Viertel ist Teil dieses Ansatzes. Denn selbst im vermeintlich ultraprogressiven Amsterdam schlägt der linken Stadtregierung nicht selten reine Wut entgegen, weil innerhalb von acht Jahren 10.000 der 265.000 Parkplätze auf Straßen verschwinden sollen.
Kritik am allseits gefeierten Autoluw-Ansatz gibt es allerdings auch aus fachkundigem Mund. Maarten Woolthuis ist Mitbegründer der Amsterdamer NGO Bycs, die sich weltweit für städtische Entwicklung durch Fahrradverkehr einsetzt. „Das Gute in den Niederlanden ist, dass man hier, anders als in Deutschland, eher sagt: Jetzt wartest du mal hier mit deinem dicken Auto!“, so Woolthuis, der teils in Köln aufwuchs. „Aber auch mit Tempo 30, das in Autoluw-Gebieten gilt, kann man noch jemanden totfahren.“
Geschwindigkeit reduzieren
Aktive Mobilität in Städten sei darum am menschlichen Maßstab zu orientieren. „Als Ausgangspunkt sollte man sich fragen: Wie wird die Stadt lebenswert für alle, also auch für vierjährige Kinder oder Senior*innen von 85 Jahren. Das bedeutet: Geschwindigkeit reduzieren. Je niedriger die Geschwindigkeit, desto lebenswerter ist ein Gebiet.“
Für Woolthuis ist autoluw „so eine typisch niederländische Polderlösung.“ Poldern, das bezieht sich auf das sogenannte Poldermodell, also eine ausgeprägte Neigung zur Konsenssuche unter Einbeziehung aller Perspektiven. „Maßnahmen wie Tempo 30, unterirdische Parkplätze, fossilen Verkehr durch elektrischen ersetzen: Dafür gibt es dann aber mehr Suchverkehr, der von einem Ort zum anderen kommen will.“ Im Grunde begrüßt Woolthuis die Verkehrsberuhigung, will das Prinzip aber viel konsequenter umsetzen. „Besser wäre es, die Umgebung aller Grundschulen während der Zeit, in der Kinder dort sind, komplett autofrei zu halten. Und dann sollten wir Kinder stimulieren, selbst zu kommen, mit Rad, Skateboard oder zu Fuß.“ Kinder lernten so, sich sicher und selbstbewusst auf dem Rad durch die Stadt zu bewegen. „Es ist schön, wenn Erwachsene aufs Lastenrad steigen. Doch den Kindern tun sie damit keinen Gefallen.“
Ein Aspekt, der beim Thema autoluw als Standardargument auftaucht, ist, dass die Städte schnell wachsen und dadurch die Frage urbanen Raums dringend verhandelt werden muss. Beispielhaft zeigt dies die Tatsache, dass in den Niederlanden derzeit 300.000 Wohneinheiten fehlen, die in den nächsten Jahren gebaut werden müssen. An dieser Konstellation wird dann auch deutlich, dass Verkehrsberuhigung weit über Aspekte wie Stadtdesign oder urbanen Lifestyle hinausgeht. Manche Maßnahme, die in diesem Kontext getroffen wird, spiegelt die Lage wider. So etwa entsteht derzeit in Utrecht die Neubausiedlung Merwede, die 12.000 Menschen Platz bieten wird – und autofrei sein soll.
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