Verfilmung von „Martin Eden“: Der Wunsch, besser zu sprechen
Pietro Marcello verfilmt Jack Londons Klassiker „Martin Eden“. Dabei macht sich der Regisseur die Vorlage über historische Versatzstücke zu eigen.
Wer gerade erst aufgestiegen ist, achtet oft besonders scharf auf die Abgrenzung nach unten. So ist es der Blick des Hausmädchens, vor dem sich Martin Eden entlarvt fühlt, als er das erste Mal das prächtige Anwesen der Orsinis betritt.
Die Mitglieder der großbürgerlichen Familie selbst hatten ihn, den ungebildeten Tagelöhner, herzlichst eingeladen, nachdem er durch handgreifliches Dazwischenfahren den Sohn Arturo aus einem Schlamassel im Hafenviertel befreit hatte. Sie begrüßen ihn als Retter und übersehen großzügig den Straßendreck auf seiner abgetragenen Jacke.
Der stumme Vorwurf des Hausmädchens bringt den jungen Mann aber nur für einen Moment aus dem Konzept. Statt sich lange gedemütigt zu fühlen, lässt Martin Eden seinem Staunen und seiner Begeisterung freien Lauf – für die Schönheit des Anwesens, der Bilder an den Wänden und besonders natürlich der Tochter des Hauses, Elena Orsini. Sie weckt in ihm den Wunsch, mehr zu lesen und besser sprechen zu lernen. Auch wenn er, wie er es ihr gegenüber noch einigermaßen ungeschickt ausdrückt, „den Weg zur Bildung zu Fuß zurücklegen muss“.
„Martin Eden“. Regie: Pietro Marcello. Mit Luca Marinelli, Jessica Cressy u. a. Italien/Frankreich/Deutschland 2019, 129 Minuten.
Das sind vertraute Elemente einer Aufsteigergeschichte: ein in einfachen Verhältnissen aufgewachsener junger Mann und die schöne Frau aus gutem Hause, die konkret und als Metapher für das steht, was er noch erreichen möchte. Man weiß auch, dass das Ende einer solchen Story zwangsläufig ambivalent sein wird.
Statt der Hafenstadt Oakland ist nun Neapel Schauplatz
Der Aufstieg alleine macht nicht glücklich, und mit der schönen Frau wird es schwierig bleiben. Das Unglück, mit dem Jack London seinen 1909 veröffentlichten Roman „Martin Eden“ enden lässt, variiert das Thema jedoch auf eine Weise, die auch über 100 Jahre später noch radikal modern wirkt.
Dass es sich um die Adaption eines US-amerikanischen Romans handelt, merkt man dem Film des italienischen Regisseurs Pietro Marcello zunächst nicht an. Statt in der Hafenstadt Oakland spielt er in Neapel, ein Ortswechsel, der den Themen der Handlung zumindest fürs europäische Auge sogar mehr Tiefe verleiht.
Die Armut des „Mezzogiorno“ gegenüber dem sich industrialisierenden Norden, das Gefangensein in ausbeuterischen Strukturen, die Unmöglichkeit des sozialen Aufstiegs – für all das gibt es Bilder, vom berühmten Ölgemälde „Il quarto stato“ bis zum Neorealismus der Filme von Roberto Rossellini und Vittorio de Sica.
An sie schließt Marcello direkt an, wenn er in die Spielhandlung, in der man Luca Marinelli als Proletarier von Job zu Job ziehen sieht, Archivaufnahmen aus verschiedenen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einstreut. In ihrer Nähe zu den bekannten Bildern bezeugen sie die Verwurzelung des Stoffs in Italien: ausdrucksstarke Gesichter, meistens Männer, deren verwitterte Mienen von viel Arbeit erzählen, Kinder, deren ausgelassenes Spiel in ärmlichen Umständen immer auch die Hoffnung des einzelnen Individuums erkennen lässt, dem Elend zu entkommen.
Kämpfe um Bildung und Gleichberechtigung
Aber dann legt er darüber Joe Dassins 70er-Jahre-Hit „Salut“ – und die Kombination bewirkt die Loslösung vom der Zeit und dem konkreten Ort. Das Neapel von Luca Marinellis Martin Eden wird zur Abstraktion des 20. Jahrhunderts und seiner Kämpfe um Bildung und Gleichberechtigung der Massen.
Aber die Geschichte von Martin Eden setzt sich ab von diesem so universellen wie speziellen Hintergrund. Denn die Begegnung mit der schönen Elena gibt Martins Leben eine neue Richtung. Nicht nur, dass er den Dreck unter seinen Fingernägeln herauskratzt, er will lernen – und er will schreiben. Es fehlen ihm so viele Grundkenntnisse, dass er zurück in die erste Klasse müsse, attestiert man ihm.
Wie als „reaction video“ montiert Regisseur Marcello an der Stelle eine schwarzweiße Stummfilmaufnahme, in der ein Klassenraum von Achtjährigen einen zahnlosen Alten auslacht. Martin beschließt, sich das Nötige selbst beizubringen. „Ich lese wie ein unersättlicher Fischer“, schreibt er seiner geliebten Elena von unterwegs als Seemann, „ich notiere alle neuen Worte und mache sie zu meinen Freunden.“
Weil er von einem Autodidakten erzählt, der sich aus proletarischen Verhältnissen zum erfolgreichen Schriftsteller emporarbeitet, hängt man Jack Londons Roman schnell das Etikett „autobiografisch“ an. Aber es sind die Differenzen, das, was Jack London zu den eigenen Erfahrungen hinzuerfunden hat, die die Erzählung interessant machen. Dasselbe gilt nun für Marcellos Film: Viel wichtiger als das Muster der Vorlage, dem er folgt, ist die filmische Art und Weise, in der er es tut. Pietro Marcello macht sich gleichsam den Roman zu eigen, so wie Martin Eden neue Worte zu seinen Freunden macht.
Reminiszenz an eine versunkene Arbeitswelt
Zum Beispiel die Szene, in der Martin sich seine erste Schreibmaschine kauft. In einem Trödlerladen, betrieben von zwei alten Männern, von denen der eine den anderen permanent anherrscht, wird er fündig. Sie packen die Maschine – es ist eines jener flachen 60er-Jahre-Modelle noch ohne jede Elektronik – für ihn aus, und auf Befehl des einen macht der andere sie sauber, mit so liebevollen und nachdrücklichen Gesten, wie sie unseren digitalen Geräte von heute gar nicht mehr vertragen würden.
Marcellos Film funktioniert so als Reminiszenz an die Handgriffe einer heute versunkenen Arbeitswelt. Das Spiel mit den eingestreuten Archivaufnahmen fügt dem noch etwas hinzu: aus szenisch erzählten Gefühlen werden assoziationsreiche, oft poetische Reaktionen. Tief ins Gedächtnis prägt sich der kleine Schwarz-Weiß-Film, auf dem man einen Großsegler auf dem Meer sieht.
Zuerst steht das Schiff prächtig im Wind, eine Metapher für Enthusiasmus und gutes Vorankommen. Später sieht man es noch einmal: Da setzt der Wind ihm so stark zu, dass es von vorne in die Tiefe gedrückt wird. Es schockiert, wie schnell ein Großsegler untergehen kann – und wie restlos das eben noch so stolze Schiff unter der Meeresoberfläche verschwindet.
Dabei hat Martin Eden da im Grunde sein Ziel erreicht. Nach langen Fehlversuchen, seine Geschichten zu verkaufen, nach unzähligen Manuskripten, die kommentarlos „Zurück an den Absender“ adressiert waren – kam endlich ein Umschlag mit einer Zusage und einem Scheck. Lange hat er sich dafür gequält.
Mehr Empathie für die Bürgerstochter
Eine verständnissinnige Witwe mit zwei kleinen Kindern auf dem Land hatte ihn bei sich aufgenommen, damit er ungestört schreiben könne. Aber schon auf dem Weg zum Erfolg zeichnete sich ab, was ihm schließlich den Genuss daran verderben wird: Er entfremdet sich sowohl von seinem alten proletarischen Milieu – den Sozialisten wirft er ihre „Sklavenmentalität“ vor – als auch von seiner neuen bürgerlichen Umgebung, von der er sich noch unverstandener fühlt.
Luca Marinelli ist großartig in der Rolle: Dem erwähnten Segelschiff nicht unähnlich, trägt er seine großgewachsene und dabei immer ein wenig ungeschlacht wirkende Gestalt voller Energie durch die erste Hälfte des Films, wie beflügelt von Lerneifer und Sehnsucht nach einem besseren Leben. Gegen Ende aber wird er immer mehr zum Wrack, ein Niedergang, der schmerzt, auch wenn der Film jedes Abrutschen in Sentimentalität vermeidet.
Pietro Marcellos Film erfordert ein Mitgehen, ein sich Treibenlassen in den Bildern, das durch sinnlichen Reichtum belohnt. Seine Hauptfigur rückt er nahe an das Publikum von heute heran; schade nur, dass er für die Figur der Elena, für die idealisierte Frau, die der männliche Held am Ende verachten muss, keine modernere Interpretation gefunden hat.
Nicht dass man sie sympathischer hätte zeigen müssen, aber ein bisschen mehr Empathie für die Trostlosigkeit des Schicksals einer Bürgerstochter, die trotz Bildung kaum über den eigenen Ehemann entscheiden darf – und dabei das Beste für sich herausschlagen möchte –, erscheint angebracht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert