Verfassungsentwurf in Ägypten: Dokument der verpassten Chancen
Der neue Entwurf trägt die deutliche Handschrift der Muslimbrüder und von Salafisten. Er lässt aber auch Freiräume für eine Demokratisierung.
KAIRO taz | Er wurde überhastet geschrieben und ohne gesellschaftlichen Konsens ins Leben gerufen. Fast ausschließlich Muslimbrüder und Salafisten zählen zu seinen Autoren, nachdem sich die Liberalen aus der verfassungsgebenden Versammlung zurückgezogen hatten. Die Rede ist vom ägyptischen Verfassungsentwurf, über den am Samstag in einer Volksabstimmung entschieden wird.
Es ist vor allem ein Dokument der verpassten Chancen, auf die viele nach der Revolution gehofft hatten: Ägypten bleibt ein Zentralstaat, der Präsident bleibt mächtiger als das Parlament und das Militär muss sich keiner ernsthaften parlamentarischen Kontrolle unterziehen.
Am meisten diskutiert wird indes, ob diese neue Verfassung Ägypten zum Gottesstaat macht. Der Artikel, der die Prinzipien der Scharia zur Grundlage der ägyptischen Gesetzgebung macht, gleicht wortwörtlich dem der alten Verfassung, die 40 Jahre lang unter den Präsidenten Sadat und Mubarak gültig war. Die ultrakonservativen Salafisten, die den vagen Terminus „Prinzipien der Scharia“ durch „Regeln der Scharia“ ersetzen wollten, konnten sich nicht durchsetzen.
Eine etwas verwirrende Konkretisierung dieser „Prinzipien der Scharia“ könnte Parlamentariern künftig die Möglichkeit geben, Teile der islamischen Rechtsprechung in Gesetzen zu kodifizieren. Auch Richter könnten bei ihren Urteilen mit der Scharia argumentieren.
Salafisten setzen sich nicht durch
Die freie Meinungsäußerung wird grundsätzlich zugestanden, es gibt aber auch Artikel, die sie wieder einschränken, wie zum Beispiel das Verbot, den Propheten zu beleidigen. Das Recht auf Religionsfreiheit ist verbürgt, diese auszuüben ist aber nur den Schriftreligionen Islam, Christentum und Judentum explizit garantiert.
Die Salafisten wollten durchsetzen, dass Frauenrechte nur garantiert werden, solange dies nicht der Scharia widerspricht. Auch damit konnten sie sich nicht durchsetzen, der Gleichheitsgrundsatz aller Bürger ist im Verfassungsentwurf erwähnt. Frauenrechte werden aber nicht gesondert garantiert, sondern in einem anderen Artikel eingeschränkt.
Darin ist von einem „Ausgleich zwischen den Pflichten der Frauen gegenüber der Familie und der öffentlichen Arbeit“ die Rede. Weiter heißt es, dass „der Staat verpflichtet ist, die wahre Natur der ägyptischen Familie zu erhalten“ und „Ethik, Moral und öffentliche Ordnung zu schützen“.
Politik muss Lücken füllen
Insgesamt weist der Text zahlreiche Interpretationslücken auf. Diese Lücken können am Ende nur von der Politik gefüllt werden. Sollte die Verfassung durchkommen, müssten viele Gesetze umgeschrieben werden, womit sich die Auseinandersetzung zwischen Liberalen und Islamisten schnell in das Parlament verlagern würde, das innerhalb von 60 Tagen nach Inkrafttreten der Verfassung gewählt werden muss.
Solange Islamisten die Wahlen gewinnen und die neuen demokratischen Freiräume füllen, so lange wird das wahrscheinlich eine weitere Islamisierung des Landes bedeuten, und dieser Verfassungsentwurf bietet zweifellos die Grundlage dafür.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Trump und die Ukraine
Europa hat die Ukraine verraten
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
Gerhart Baum ist tot
Die FDP verliert ihr sozialliberales Gewissen
Münchner Sicherheitskonferenz
Selenskyjs letzter Strohhalm