Verfassungsänderung in Chile: Es gibt noch Hoffnung
Den ersten Entwurf einer neuen Verfassung haben die Chilenen abgelehnt. Aber die Abstimmung ist nur der Auftakt des verfassungsgebenden Prozesses.
D as Ergebnis der Volksabstimmung in Chile zur vorgeschlagenen neuen Verfassung hat alle überrascht. Selbst die Gegner des Textes hätten nie gedacht, dass das Ergebnis so klar sein würde: Zwei von drei Wählern stimmten gegen den Entwurf.
So endete ein Prozess – oder wenigstens dessen erste Phase -, der im Oktober 2019 mit einer der wichtigsten sozialen Bewegungen in der Geschichte Chiles begann. Das Land möge demokratischere Strukturen erhalten, war der Wunsch, denen mehr Gleichheit und soziale Gerechtigkeit folgen sollten, um das neoliberale System zu beenden, das noch durch die Diktatur Augusto Pinochets geprägt war.
Im Jahr 2020, ein Jahr nach den Protesten, stimmten fast 80 Prozent der chilenischen Wähler für eine Änderung der Verfassung, für die ein demokratisch gewählter Verfassungskonvent einen Entwurf erarbeiten sollte. Der Konvent setzte sich aus Repräsentanten unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen zusammen, unter ihnen Feministinnen, Mitglieder der LGBTQ-Community, politisch Unabhängige und Indigene.
Der vom Verfassungskonvent nach zwölfmonatiger Arbeit vorgeschlagene Text konnte die Mehrheit der Chilenen jedoch nicht überzeugen. Warum? Das ist eine Frage, die zu beantworten einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Man muss bedenken, dass der Vorschlag eine Reihe von einschneidenden strukturellen Veränderungen beinhaltete: Rechtsstaatlichkeit, die Entprivatisierung der Wasserversorgung, die Anerkennung der indigenen Völker, das Recht auf Abtreibung und die Gleichberechtigung von Männern und Frauen.
Die Linke hat einige Fehler gemacht
Doch es lassen sich bereits einige Faktoren erkennen, die das verheerende Ergebnis für die Unterstützer der Verfassungsänderung beeinflusst haben könnten.
Zunächst einmal war das Plebiszit die erste Wahl seit zehn Jahren, für die eine Wahlpflicht galt. Und die Linke hat nicht verstanden, dass angesichts einer Pflicht, wählen zu gehen, die Wählerschaft für die Volksabstimmung nicht die gleiche sein würde wie jene, die vor einigen Monaten den linken, liberalen, grünen und feministischen Kandidaten Gabriel Boric ins Präsidentenamt gebracht hat.
Zudem fällt es großen Teilen der Bevölkerung schwer, eine Verbindung zu sogenannten fortschrittlichen Themen aufzubauen, während ihr Land in einer Migrationskrise steckt, die Inflationsrate mehr als 13 Prozent erreicht und die Kriminalitätsrate hoch ist; Probleme, die seit Jahren keine Regierung in den Griff bekommen hat. Und das alles zusätzlich zu sich ständig verschärfenden internationalen Krisen.
Elisa Loncón, Repräsentantin des Mapuche-Volkes und ehemalige Präsidentin des Verfassungskonvents, sagte, dass „die Niederlage auf individuellen und kollektiven Fehlern beruht“. Es gab Schuldzuweisungen an Andersdenkende, es fehlte an Debatten und manchmal trübte das Machtstreben einiger Konventsmitglieder das Verständnis für die anstehende Aufgabe.
Die Rechten haben die Debatte untergraben
Die rechten Parteien in Chile, die im Verfassungskonvent weniger als ein Drittel der Mitglieder stellten, erwiesen sich der Aufgabe ebenfalls nicht gewachsen. Im Gegenteil: Viele von ihnen, wenn nicht sogar die meisten, wollten schlicht den Prozess diskreditieren und die Debatte behindern. Schlimmer noch, sie produzierten Fake News, verbreiteten Lügen in den sozialen Medien und schürten Ängste.
wurde in Santiago de Chile geboren. Er ist Student und schreibt als freier Journalist für verschiedene chilenische Medien, die Deutsche Welle und die taz.
Chile war ein deutliches Beispiel dafür, wie gefährlich Fake News während politischer Kampagnen sein können, die ohne Rücksicht auf die Folgen für das Land in Umlauf gesetzt werden. In den vergangenen Monaten kursierten in Chile so viele von ihnen, dass die Befürworter des Verfassungsvorschlages nicht in der Lage waren, auf alle Falschinformationen zu reagieren und eine klare Botschaft im Hinblick auf ihre tatsächlichen Vorschläge zu vermitteln.
Doch es ist nicht alles verloren. Die Chilenen lehnten den Vorschlag mehrheitlich ab, wollen aber eine neue Verfassung: Die Pinochet-Verfassung ist für sie inakzeptabel. Chile hat in den vergangenen Jahren einige Fortschritte gemacht. Das Land versteht, dass es sich modernisieren muss, um die künftigen Herausforderungen meistern zu können.
Die Politiker haben jetzt die Aufgabe, den wirklichen Bedürfnissen und Forderungen der Chilenen gerecht zu werden. Das hat auch Präsident Boric verstanden, der noch am Tag des Plebiszits sein politisches Kapital zur Verfügung stellte, um einen Dialog zwischen allen politischen Kräften in Gang zu setzen. Das Ziel ist, zu entscheiden, ob in den folgenden Jahren, entweder durch Reformen im Kongress oder durch erneute Wahlen zu einem neuen Verfassungskonvent, das Land vorangebracht werden soll.
„Nicht diese Verfassung – eine andere“
Chile hat eine weitere Chance. Die Rechte hat in ihrer Kampagne versprochen, sich an einem neuen Verfassungsprozess zu beteiligen. Viele Unabhängige, die den ersten Vorschlag abgelehnt haben, fordern nun, dass so schnell wie möglich ein neues Verfahren eingeleitet wird.
Rechte und Unabhängige haben sich bereits zu einer Reihe von Kompromissen bereit erklärt: Es soll einen Übergang zu einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat geben und eine Frauenquote. Die indigenen Völker sollen durch einen multikulturellen Staat in der Verfassung anerkannt werden und die Grundrechte modernisiert werden, insbesondere Bürger- und Gesundheitsrechte sowie politische Rechte. Wasser soll Menschenrecht werden.
„Nicht diese Verfassung – eine andere“, war am Sonntagabend zu hören. Es gibt noch Hoffnung in Chile, aber mehr auf die Menschen als auf die Politiker. Der vergangene Sonntag ist verloren, aber das Land hat eine Zukunft voller Veränderungen vor sich. Und allen ist klar, dass der verfassungsgebende Prozess noch lange nicht abgeschlossen ist.
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