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Verfahren gegen frühere KZ-SekretärinEin Prozess, der sein muss

Kommentar von Klaus Hillenbrand

Der Prozess gegen die frühere KZ-Sekretärin kann das lange Versagen der Justiz nicht ungeschehen machen. Aber es gilt: Alter schützt vor Strafe nicht.

Der Eingang des ehemaligen KZ Stutthof – heute ein Museum, in dem an die Verbrechen erinnert wird Foto: Piotr Wittman/dpa

D er Prozess gegen die 96-jährige Irmgard F. begann am Dienstag in Itzehoe mit dreiwöchiger Verspätung. Am ersten Tag der Hauptverhandlung war keine Anklage verlesen worden, weil die Angeklagte aus ihrem Pflegeheim ausgebüxt war. Die frühere Chef­sekretärin des KZ Stutthof fühlt sich nämlich unschuldig.

Aber eigentlich findet dieses Verfahren mit einer Verspätung von mindestens 60 Jahren statt. Seit den 1950er Jahren war der bundesdeutschen Justiz bekannt, dass Irmgard F. über zwei lange Jahre die Korrespondenz des KZ-Kommandanten erledigt hatte, während unmittelbar neben ihrem Büro Zehntausende Häftlinge jämmerlich verhungerten, erschossen oder vergast wurden oder an Krankheiten verstarben. Eine Korrespondenz war das, die zum Tod dieser Menschen mittelbar beitrug. Doch jahrzehntelang musste sie sich für diese mutmaßliche Tatbeteiligung nicht verantworten – so wie Tausende andere KZ-Wachmänner und Schreibstubenbedienstete auch.

Denn deutsche Richter hatten sich darauf geeinigt, dass man die vorgeblich kleinen Täter laufen lassen kann. Nur bei einer unmittelbaren Tatbeteiligung machte man den Vollstreckern des Völkermords einen Prozess. Das aber waren nur wenige, denn die meisten ihrer Opfer waren tot und konnten nicht Zeugnis ablegen. Das war eine sehr bequeme Haltung, zumal die damaligen Richter und Staatsanwälte selbst nicht immer eine weiße Weste trugen.

Diese krumme Rechtsauffassung änderte sich erst, als die meisten Verantwortlichen längst verstorben waren. Und es dauerte noch einmal geschlagene vier Jahre von den ersten neuen Ermittlungen bis zum Prozessbeginn gegen Irmgard F. Jetzt, 76 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur, steht sie als Greisin vor Gericht, angeklagt der Beihilfe zum Mord in mindestens 11.000 Fällen. Aber macht das heute noch einen Sinn?

Überlebende mussten lange warten

Ja, eine Wiederholungsgefahr geht von der Angeklagten wohl nicht aus. Aber dennoch müssen in einem Rechtsstaat Taten wie die, die Irmgard F. vorgeworfen werden, gesühnt werden. Es steht nirgends geschrieben, dass Alter vor Strafe schützt. Aber die wenigen, inzwischen selbst uralten Überlebenden und ihre Nachkommen mussten bis heute warten, dass die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt.

Der Prozess kann das jahrzehntelange Versagen der Justiz nicht ungeschehen machen. Aber noch furchtbarer wäre es, wenn sich wegen dieses Versagens die letzten lebenden mutmaßlichen Täter nicht für das verantworten müssen, was sie in der Nazizeit anderen Menschen angetan haben. Es wäre ein zweites Versagen.

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taz-Autor
Jahrgang 1957, ist Mitarbeiter der taz und Buchautor. Seine Themenschwerpunkte sind Zeitgeschichte und der Nahe Osten. Hillenbrand ist Autor mehrerer Bücher zur NS-Geschichte und Judenverfolgung. Zuletzt erschien von ihm: "Die geschützte Insel. Das jüdische Auerbach'sche Waisenhaus in Berlin", Hentrich & Hentrich 2024
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8 Kommentare

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  • "Irmgard Furchner war 1. Stenotypistin. Sie war der Lagerleitung mit Kommandanten und Adjutanten untergeordnet. Sie war freiwillig da, niemand hatte sie gezwungen, zuvor arbeitete sie bei der Dresdner Bank. Sie war 18, 19 Jahre alt, als sie im KZ am Schreibtisch saß. Kann eine Sekretärin, die selbst nicht zur Waffe griff, zur Ermordung Tausender Menschen beigetragen haben?"

    www.spiegel.de/pan...-ba32-d344d2dc76e4

    Ja. Sie kann und hat zur Ermordung beigetragen. Sie war eines der vielen Rädchen, die die Todesmaschinerie der Nazis bereitwillig am Laufen gehalten haben.

  • Also ich sehe da bereits in der Überschrift einen Fehler. Alter mag zwar nicht vor einer Verurteilung schützen, vor Strafe allerdings schon. Denn das die betagte Dame in ihren Alter keine Strafe zu befürchten dürfte wohl allen klar sein.



    Um ganz ehrlich zu sein, ich finde die ganze Sache mehr als peinlich. Was man mehr als 70 Jahre lang bewusst unterlassen hat, kann man nicht wiedergutmachen, indem man einfach so tut als wäre die Zeit stehen geblieben. 70 Jahre lang konnten alle möglichen Verantwortlichen deutscher KZ ins Ausland gehen oder sich gar in Deutschland ein schönes Leben machen und nun fällt der deutschen Justiz nichts besseres ein als ausgerechnet das kleinste und mit 19 Jahren mit weiten Abstand jüngstes Mitglied des damaligen Todesapparates mit sage und schreibe 96 Lebensjahren vor Gericht zu zerren. Zumal besagte Sekretärin gerade mal 8 Jahre alt war und somit in Ihren Leben ausser Nationalsozialismus bewusst überhaupt nichts erlebt hat. Ich finde, die moralische Schuld ist unzweifelhaft. Aber eine juristische Schuld nach nunmehr 76 Jahren Untätigkeit herbeireden zu wollen ist meiner Meinung nach zumindest fragwürdig.

  • Sach mal a gähn so: Ach Herr Klaus Hillenbrand! Könnses nicht lassen?!



    Unbelehrbar. *59 & dennoch: Sühne!



    Nich to glöben & rein tonn katolsch warrn •

    “ Im Rechtskontext wird eine Handlung als Sühne bezeichnet, durch die ein Mensch eine von ihm begangene Schuld oder ein Unrecht anerkennt und ausgleicht, um den verursachten Streit beizulegen oder den Schaden zu beheben. Die deutsche Umgangssprache verwendet die Ausdrücke „Sühne“, „Strafe“ und „Buße“ weitgehend synonym.“ Get it? Abwarten - wa.



    de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BChne

    & ansonsten verweise ich erneut auf - Lowando zu demselben => in =>



    taz.de/Prozess-zum...Klaus+Hillenbrand/



    “Vorweg. Wie schon mal angedeutet - habe ich einige nicht nur rechtstheoretische Probleme mit einer späten Änderung der Rechtsprechung in Verfahren der vorliegenden Art. Das würde hier aber zu weit führen.

    Im Ergebnis halte ich sie aber grundsätzlich für akzeptabel. But.

    &

    Da wären wir u.a. beim guten @Mann Aus GiWezuan=>Strafverfahren ja/nein?

    Räumt frauman mal die eher disperaten Fleißkärtchen von Klaus Hillenbrand beseite - um einer Wirrnis zu begegnen!

    So bleibt die Frage: Strafanspruch des Staates bei “ Der Prozess gegen die 96-Jährige wird vor einer Jugendstrafkammer stattfinden, denn zum Tatzeitpunkt war sie (als Sekretärin) noch eine Heranwachsende, 18 und 19 Jahre alt.“

    &

    Herr Hillenbrands “ Wie schuldig ist eine Sekretärin?“ & das folgend insistierende “… , all das spricht für das Gegenteil.“ - ist derzeit unbewiesen! Es gilt in dubio pro reo. Im Zweifel für den Angeklagten • (Alice Schwarzer is‘nt there!)



    Also zurück zum Strafanspruch - hier!

    Dazu schon mal in =>

    taz.de/Terrorismus...Franco-A/!5795440/

    “ & zum Schutz der Gesellschaft (Franz v. Liszt!;) auch lange zum Nachdenken & Besinnen werden •

    unterm——— servíce —-

    Von Liszt, Franz (* 1851- † 1919): Franz von Liszt war ein führender Straf- und Völkerrechtler seiner Zeit. Bekannt ist er v.a. für ff

    • @Lowandorder:

      



      ff



      seine Strafzwecktheorie. Er wollte die bis dahin herrschenden Straftheorien Immanuel Kants und Georg Wilhelm Friedrich Hegels überwinden. Ähnlich wie Paul Johann Anselm von Feuerbach betont er den Zweck der Strafe, d. h. der Strafvollzug diente nicht der Vergeltung, sondern der zweckgerichteten Spezialprävention, weshalb Liszt als Vater der spezialpräventiven Straftheorie mit ihren Strafzwecken der Sicherung, Besserung und Abschreckung gilt. Seine kriminalpolitischen Gedanken fanden in den Strafrechtsreformen des 20. Jahrhunderts Berücksichtigung:

      ff



      —-- & gleich noch => Tucho -

      Merkblatt für Geschworene

      Nachdruck erbeten

      www.textlog.de/tucholsky-merkblatt.html

      Es erfolgte eine Abschaffung kurzer Freiheitsstrafen, die Strafe konnte zur Bewährung ausgesetzt werden, Maßregeln der Besserung und Sicherung wurden eingeführt, es gab einen resozialisierenden Strafvollzug und es wurden besondere Maßnahmen gegenüber dem jugendlichen Straftäter eingeführt.

      www.defactojura.de/bekannte-juristen

      & sein begeisterter Schüler Dr. Kurt Tucholsky => Pointiert wie immer =>

      “ Jedes Verbrechen hat zwei Grundlagen: die biologische Veranlagung eines Menschen und das soziale Milieu, in dem er lebt. Wo die moralische Schuld anfängt, kannst du fast niemals beurteilen – niemand von uns kann das, es sei denn ein geübter Psychoanalytiker oder ein sehr weiser Beicht-Priester. Du bist nur Geschworener: strafe nicht – sondern schütze die Gesellschaft vor Rechtsbrechern.“



      Damit sin wir in medias res mittenmang

      Da eine Verjährung in Verfahren der vorliegenden Art nicht eingreift!*

      Kann von einem Schauprozess nicht die Rede sein. Verhandlungsfähigkeit ist limitierend & - das Strafmaß im Fall von “guilty“ => Bewährungsstrafe • => dem Schutz der Gesellschaft ist damit Genüge getan.



      (im übrigen für die Unverbesserlichen - verweise ich auf Lowando a.E. vom Kommentar 8.September 18:50 !)

      “Mein ist die Rache redet Gott!“

      => “Die Füße im Feuer“

      ff & fin

      • @Lowandorder:

        ff & fin

        “ Die Füße im Feuer ist eine Ballade von Conrad Ferdinand Meyer, erschienen 1882 in dessen Gedichten, die unter dem Thema der Folter den Zusammenprall zweier extrem unterschiedlicher Weltsichten zeigt.“

        de.wikipedia.org/w...BC%C3%9Fe_im_Feuer

        &

        Franz von Liszt & Tucho geben die Antworten in dem modernen sozialen Rechtsstaat des Grundgesetzes!

        (& nicht der Spekulatius eines Klaus Hillenbrand oder gar das Rachepunzelchen vom Rhein!;(( “

        Soweit mal - weils uneingeschränkt auch für sojet voll reaktionäres Sühnegefasel - prae Von Liszt - gilt •

        Ende des Vorstehenden

  • Die grossen Nazis wurden Richter, Staatsanwälte, Politiker und Militärs in Nachkriegsdeutschland. Obgleich die Sekretärin Schuld trägt hats doch ein Geschmäckle wenn sie verurteilt wird und die "Grossen" ein sattes Leben hatten/haben

  • 0G
    05989 (Profil gelöscht)

    Im Prinzip totale Zustimmung! Diese Prozesse sind, wo sie noch möglich sind, unumgänglich.

    Das allerdings bedeutet ja nicht zwangsläufig, dass die Greise auch alle in den Knast wandern - auch wenn sie es sicher teilweise verdient hätten. Angefangen damit, dass die heute vor Gericht stehenden mehrheitlich nach Jugendstrafrecht verhandelt werden...

    Andererseits kann das Gericht auch die Haftunfähigkeit feststellen und/oder ersatzweise Geldstrafen festlegen. Einige von diesen haben ein gesamtes Erwerbsleben - eventuell zu unrecht - in Freiheit verbracht und möglicherweise materielle Vorteile daraus gezogen. Warum sollten sie die behalten dürfen?

    Aber die Voraussetzung für alle diese Abwägungen ist ein (Straf)Prozess.

    Und ich glaube, dass auch den Kindern und Enkeln der Überlebenden - meine Familie ist Opfer in einem anderen Genozid - durchaus Genugtuung zukommt, wenn Strafzahlungen in Projekte des internationalen Austausches oder der Bildung fließen. Diese Geschichten bleiben über Generationen präsent und prägen Familien.

    Ohne Urteile kein (Rechts)Frieden.

    • @05989 (Profil gelöscht):

      Na ja, aber überlegen Sie mal. Die Dame war gerade mal 8 Jahre alt, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Das heißt, sie kannte eigentlich ausser den Nazis gar nichts anderes. Ich denke, viele Menschen machen diesbezüglich den Fehler die Vergangenheit mit dem Wissen von heute zu betrachten. Überlegen Sie mal, Sie wachsen in einen eher rechten Elterhaus auf und werden Tag für Tag mit rechten Gedankengut konfrontiert. Schauen Sie mal nach Nordkorea, da können Sie sehen was das aus Menschen macht.



      Die genauen Umstände dürften nach so langer Zeit schlichtweg nicht mehr zu klären sein.