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Verdächtige Ruhe liegt über Cizre

Heute kontrolliert das türkische Militär wieder die ehemalige Hochburg der Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Viele Bewohner sind in den Westen des Landes geflüchtet, andere aus den zerstörten Dörfern in die Stadt gekommen  ■ Aus Cizre Antje Bauer

Cizre ist keine schöne Stadt. Eine Ansammlung grauer Häuser, durch die verdreckte Straßen führen. Am Mittelstreifen der Einfallstraße lagern Kühe, wie eh und je. Überall stehen Tanklastwagen vor kleinen, schwarz verschmierten Autowerkstätten: Der Irak mit seinem Erdöl ist nur eine halbe Stunde Fahrt von hier entfernt. Die Panzer, die in den letzten Jahren die große Kreuzung besetzt gehalten hatten, sind verschwunden. Händler sitzen vor ihren Lädchen, gelegentlich fährt ein Auto vorbei.

Die Stadt wirkt heute etwas gepflegter, geordneter und sauberer als vor ein paar Jahren. Der zentrale Platz, früher nur Staub und Schlamm, ist in einen Park umgewandelt worden. Vor kurzem erst wurde er eingeweiht, zum 70. Jahrestag der Republikgründung. In der Mitte des Parks freilich steht eine Statue des Staatsgründers, Mustafa Kemal Atatürk, dessen türkischer Nationalimus noch heute dazu dient, die Existenz von Kurden als eigener Volksgruppe zu leugnen.

Vor weniger als fünf Jahren war diese Stadt eine Hochburg der Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Es kam fast täglich zu Schießereien zwischen PKK-Angehörigen und den staatlichen Sicherheitskräften. Die Bevölkerung errichtete Barrikaden und zündete Reifen an, die Regierung entsandte Sondertruppen und stationierte Panzer in den Straßen. Nach Sonnenuntergang waren die Straßen menschenleer. In diesem Spätherbst 1998 sitzen Männer bis in die Nacht hinein im Freien, trinken Tee und schauen Fußball in den aufgehängten Fernsehern. Gelegentlich fällt der Strom aus, dann senkt sich plötzlich Stille über Cizre. „Inzwischen ist es ruhig geworden hier“, sagt der Rezeptionist im Hotel Kadooglu, der ersten Adresse am Ort. „Gott sei Dank. Diese ständigen Schießereien, das war ja nicht auszuhalten. Irgendwann wußte man ja nicht einmal mehr, ob der, den man vor sich hatte, ein PKKler war oder einer vom Staat.“ Aber so richtig erzählen, wie es damals war, das will er nicht.

Ab 1993 errangen die türkischen Militärs nach und nach die Kontrolle über die Stadt. Die staatliche Repression nahm zu, die PKK-Verbände mußten sich in andere Regionen zurückziehen, in Cizre nahmen die Auseinandersetzungen ab. Wer auf Seiten der PKK gestanden hatte oder dessen verdächtig war, ergriff die Flucht, die Stadt leerte sich: Etwa 25.000 Menschen, die Hälfte der Bevölkerung, sollen Cizre damals in Richtung Westtürkei oder Ausland verlassen haben; genaue Zahlen gibt es darüber nicht. Die meisten dieser Flüchtlinge fristen noch immer ein erbärmliches Leben in den Slums der türkischen Städte.

Die Massenflucht wirkte sich auch lokalpolitisch aus. Bei den Gemeinderatswahlen 1994 wurde mit Kamil Atak zum ersten Mal ein ausgewiesener Dorfschützer – von der Regierung gegen die PKK bewaffnete Kurden – zum Bürgermeister gewählt. Daß dieses Wahlergebnis hauptsächlich aufgrund einer politischen Säuberung der Stadt zustande kam, wird im Rathaus natürlich bestritten. „Das Volk von Cizre hat erkannt, was richtig ist, und der PKK völlig die Unterstützung entzogen“, versichert Cemin Üçkaç, der Vizebürgermeister, in etwas holprigem Türkisch. Im Rathaus trifft der 28jährige Würdenträger mit einem kleinen männlichen Gefolge ein; der jüngste seiner Begleiter, kaum der Pubertät entwachsen, trägt ein Gewehr.

Üçkaç ist bemüht, die positiven Veränderungen der letzten Jahre herauszustreichen: Seit Kamil Atak Bürgermeister ist, seien Straßen und Schulen gebaut und Geld in eine Verbesserung der Infrastruktur gesteckt worden; die „Entwicklungsstiftung“, ein Zusammenschluß regionaler Geschäftsleute, habe eine Ziegelfabrik in Cizre errichtet. Staatliche Investitionen seien allerdings bislang ausgeblieben. Dennoch gibt sich Cemin Üçkaç optimistisch: „In der Gegend von Beytüș, Sebab und Uludere gibt der Staat jetzt den Dörflern Kredite, damit sie sich wieder Vieh kaufen können. Denn während der Ereignisse haben viele ihre Schafe und Ziegen verkauft. Wir hoffen, daß auch die Bauern in den Dörfern um Cizre solche Kredite bekommen, dann werden sie sich freuen.“

Aus den allgemeinen Wahlen 1995 ging in Cizre die konservative Partei des Rechten Weges als stärkste Partei hervor. Auf Platz drei aber kam mit etwa 25 Prozent der Stimmen die Hadep, die der PKK nahesteht und gegen die nun – kurz vor den Wahlen – ein Verbotsverfahren eingeleitet worden ist. „Die Bürger sind frei, sie können wählen, was sie wollen, es gibt keinerlei Druck“, beteuert Üçkaç. Trotz ihrer Stärke hat diese Partei jedoch kein Büro in Cizre. „Die Kandidaten waren nicht von hier, die waren aus Șirnak“, erklärt Üçkaç. Doch gibt er auf Nachfragen zu, daß es auch in der nahegelegenen Kreisstadt Șirnak kein Parteibüro der Hadep gibt. So weit geht die Freiheit nicht.

Rasul Yilmaz ist 49 Jahre alt und Oberhaupt eines großen Stammes von etwa 15.000 Menschen, der bis vor einigen Jahren in Dörfern in der Nähe von Cizre lebte. Der Stamm hatte sich auf die Seite des Staates geschlagen, doch trotz Bewaffnung hatte er sich gegen die Überfälle der PKK nicht wehren können. „Sie kamen nachts und verlangten Essen, Geld und unsere Jugendlichen. Wir konnten nichts gegen sie ausrichten. Sie haben uns überallhin verfolgt. Schließlich haben wir alle unsere Dörfer verlassen. Einige sind nach Istanbul gezogen oder anderswohin, wir sind hierher nach Cizre gezogen. Hier hört jeder vierte Einwohner auf mich.“

Im Gespräch schwankt Yilmaz zwischen der rhetorischen Sehnsucht nach Rückkehr – „Auch wenn ganz Cizre mir gehören würde, würde ich doch in mein Dorf zurückkehren, wenn das möglich wäre“ – und der realistischen Einschätzung: „Mir geht es gut hier. Und meine Söhne werden wohl auch nicht aufs Dorf zurückkehren. Das Leben in der Stadt ist viel einfacher als auf dem Dorf.“

90 Prozent aller kurdischen Dörfer sind in den vergangenen Jahren zerstört worden. Wie viele der Bewohner, die in die Städte geflohen sind, jemals wieder zurückkehren werden, ist fraglich. Die Lehmhäuser müssen neu aufgebaut, die Äcker vorbereitet, viele Gegenden von Minen geräumt werden, die die eine oder andere Seite gelegt hat. Möglicherweise wird die Entvölkerung der ländlichen Gebiete aus einer jahrhundertealten bäuerlichen kurdischen Gesellschaft eine Gesellschaft von Kleinhändlern machen.

Am Vortag bereits hatte das Betreten der Brücke über den Tigris die Polizei auf den Plan gerufen. Sie seien von der Bevölkerung alarmiert worden, daß da eine Ausländerin zu Fuß unterwegs sei, geben die Beamten in Zivil an. Nach dem Besuch im Rathaus wartet gleich eine ganze Kohorte junger Ziviler von der politischen Polizei auf die Besucherin im Hotel. Es folgen eine Mitnahme ins Polizeiareal außerhalb der Stadt, mehrstündiges Warten. PKK-Chef Abdullah Öcalan sitzt zu diesem Zeitpunkt noch im Exil in Italien, was die Polizisten erbost. „Wenn sich das Ausland nicht dauern einmischen würde, hätten wir das Terrorismusproblem hier innerhalb von zwei Tagen gelöst“, versichert in drohendem Ton ein junger Kommissar. „Aber wir kennen unsere Feinde: Rußland, Griechenland, Italien... Und eines Tages kommt die Stunde der Türkei, und dann stellen wir sie alle an die Wand.“

Im Anschluß an die Festsetzung wird eine Eskortierung durch zwei junge Zivilpolizisten mit Turnschuhen dekretiert. Sie würden mich von nun an überallhin begleiten, erklären sie, zu meinem persönlichen Schutz natürlich. Auf die journalistische Arbeit habe das keinerlei Auswirkungen. „Unser Verhältnis zur Bevölkerung hier ist sehr gut. Viele von uns wohnen nicht im Polizeiareal, sondern in der Stadt, wir verstehen uns wunderbar“, setzt der junge Mann hinzu.

„In Anwesenheit von Polizisten macht hier niemand den Mund auf“, versichert hingegen ein älterer Mann im Fond des Sammeltaxis auf der Fahrt in die Kreisstadt Șirnak. Die Landstraße führt durch bergiges Gebiet, das bis 1995 unter der Kontrolle der PKK stand. „Die Bewohner dieses Dorfes standen einmal auf seiten der PKK“, sagt ein anderer Passagier. „Dann ist ihr Dorf zerstört worden, sie haben sich hier angesiedelt, und nun sind sie Dorfschützer.“

Ein eigenartiges Dorf, durch das das Taxi gerade fährt. Anstelle der traditionellen Lehmhäuser stehen hier neue Steinbauten. Kein Baum, kein Strauch; ungewöhnlich viele Menschen sind in den Gassen zu sehen: „Arbeiten diese Leute hier nicht? Wovon leben sie?“ – „Die bekommen doch ihren Lohn vom Staat, weil sie Dorfschützer sind“, sagt der Mann im Fond mit verächtlicher Stimme. „Dann halten sie sich ein paar Tiere, das ist alles. Mehr tun sie nicht. Hier in der Region gibt es keine alten Dörfer mehr. Die sind alle zerstört worden. Es gibt nur noch diese neuen, an der Straße. Und überall Dorfschützer. Auch dieser da ist einer.“ Das Taxi mußte anhalten, weil eine Schafherde die Straße überquert. Der bärtige Hirte trägt ein Gewehr auf dem Rücken.

In Șirnak war früher, ebenso wie in Cizre, die Unterstützung für die PKK sehr stark. 1993 wurde die Stadt nach einem PKK-Angriff bombardiert, ein Großteil der Bevölkerung floh. Heute wirkt Șirnak ebenso ruhig wie Cizre; neue Häuser an der Hauptstraße, Kühlschränke stehen zum Verkauf auf dem Bürgersteig. Die Behörden freilich scheinen dem Frieden nicht zu trauen: Die polizeiliche Begleitung der Journalistin erhöht sich in Șirnak auf fünf Beamte mit piepsenden Funkgeräten.

Mehmet Yarka, der Vorsitzende der örtlichen Handelskammer, hat seine gesamte Jugend im Zeichen der bewaffneten Auseinandersetzungen verlebt und das Gefühl, um all diese Jahre gebracht worden zu sein. Die jetzige Ruhe begrüßt er. „Die Sicherheitslage hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Die Ereignisse hatten sich auch auf den Kleinhandel niedergeschlagen, der lag völlig darnieder. Inzwischen sind hier zahlreiche Arbeisplätze geschaffen worden.“ Doch beklagt er ein jüngstes Regierungsdekret, wonach die aus dem Irak importierten Waren nun nur noch in der Region umgeschlagen werden dürfen.

Der Taxifahrer rast über die kurvige Straße, als ginge es um sein Leben. „In einer halben Stunde meldest du dich aus Cizre“, hatten die Polizisten ihm drohend gesagt, „und wehe, du hältst irgendwo auf der Strecke“. Dabei müßte er genau das eigentlich tun, denn ein Sammeltaxi nimmt überall Leute mit. Doch der Befehl, die Ausländerin möglichst schnell aus der Gegend zu entfernen, ist wichtiger.

„Sie mißtrauen mir. Dabei wissen sie ganz genau, daß ich Dorfschützer bin“, mault er. Und wie ist er zum Dorfschützer geworden? „Du weißt doch, was ein Aga ist“, erklärt er. „Der Aga ist der, dem das Land gehört und der das Sagen hat. Und der bestimmt, ob sein Dorf auf der Seite des Staates steht oder auf der Seite der PKK.“ Der Aga aus des Taxifahrers Dorf ist nicht nur Großgrundbesitzer, sondern dazu noch Bürgermeister und Vorsitzender des Entwicklungsfonds – ein wahrhaft mächtiger Mann. Doch der junge Mann ist zufrieden: Als Dorfschützer steht er auf der Seite der Sieger.

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