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Verbotener Autor Ma Jian"In China wird mein Roman geblockt"

Der Schriftsteller Ma Jian ("Peking Koma") über verbotene Freud-Lektüre, Sprache als Heimat und die Veränderungen, die der Kapitalismus für das Leben in China brachte.

"Selbst von einem Stück Westkäse erhoffte man sich, dass es das Schicksal ändern könnte." Bild: flora drew
Ines Kappert
Interview von Ines Kappert

taz: Herr Ma Jian, lassen Sie uns als Erstes über Freud sprechen. Die Hauptfigur in ihrem Roman "Peking Koma" ist eine große Figur bei der Studentenbewegung von 1989. Dai Wei organisiert die Demos, die Megafone und stellt sicher, dass die Studierenden mit Wasser und Essen versorgt werden. Irgendwann kriegt er eine Raubkopie der Schriften von Sigmund Freud in die Finger. Diese damals noch verbotene Lektüre wird für ihn und seine Kommilitonen zum Erweckungserlebnis. Warum?

Ma Jian: In den 70er- und 80er-Jahren waren für uns Dinge aus dem Westen wahnsinnig wichtig. Westen bedeutete Freiheit. Daher wollte man alles wissen, wie die Westler sich kleiden, was sie essen. Selbst von einem Stück Westkäse erhoffte man sich, dass dieses vielleicht das eigene Schicksal ändern könnte. Ich hab mir damals einen Bart wachsen lassen, weil ich durch die Geschichten aus dem Westen erfahren habe, dass man das Recht hat, anders als die Masse aussehen zu dürfen.

Freud steht also für das Recht auf Abweichung?

Ja. Von Freud haben wir von der unbewussten Sexualität erfahren, und vielleicht noch wichtiger: Das Bewusstsein von der Komplexität des Ichs kam mit dem Lesen seiner Texte.

Dieses Wissen kann auch gefährlich sein, gerade wenn eine Gesellschaft Individualität unterdrückt.

War sie auch. Ich wurde mal festgenommen, nur weil wir "Freunde des Westens" eine Party gefeiert haben. Und ich hatte ungeheure Angst. Die Partei lancierte damals eine Kampagne "Gegen die geistige Verschmutzung". Später sprach sie davon, dass sie in dieser Zeit 20.000 Todesurteile ausgesprochen habe.

Wann war das?

1983.

Ist die Entdeckung der Untiefen in der eigenen Psyche nicht auch ziemlich verunsichernd?

Für mich war das Gefährlichste, dass ich meinen Glauben verliere. Ich bin bekennender Buddhist. Drei Jahre lange reiste ich nach 1989 durch China, auf der Suche nach meinem Ich. Aber ich hab es nicht gefunden. Erst als ich in Tibet war, habe ich begriffen, dass Laufen mir nicht weiterhelfen wird. Ich musste anfangen, mein Ich in mir selbst zu suchen. In meinem Herzen.

Ist es für Sie im Londoner Exil einfacher geworden, zu sich zu kommen?

Das Ich ist ja immer unterwegs, egal wo man lebt. Ich komme in meiner Sprache nach Hause. Sie ist mein Halt, nicht mein Vaterland. Aber einfach ist das auch nicht.

Tiananmen liegt ebenso wie die Entdeckung von Freud 20 Jahre zurück. Wie geht man heute mit Sexualität und Begehren um, gerade auch in den neu entstehenden Mittelschichten?

Das heutige China hat kaum mehr etwas mit dem China von Mao oder Deng Xiaoping zu tun. Es ist einen großen Schritt weiter. Der Umgang mit Sexualität ist viel freier geworden. In den 80er-Jahren konnte man noch von der Uni fliegen, wenn man mit einem Mädchen auf der Parkbank erwischt wurde. Heute erhebt die Kommunistische Partei keinen Anspruch mehr darauf, das Privatleben bis ins letzte hinein zu kontrollieren. Alles hat sich verändert, seitdem man kapitalistisch geworden ist. Mit einer Ausnahme: der politische Terror gegenüber Kritikern.

"Peking Koma" kann in China nicht erscheinen. Warum?

Weil das Gedächtnis an das Massaker auf dem Tiananmen in China so gut wie ausgelöscht wurde. "Peking Koma" aber handelt nun mal von 1989 und seinen Folgen. Wenn Sie in China nur den Titel ins Netz eingeben, werden sofort sämtliche Seiten blockiert.

Können Sie sich damit abfinden, nur außerhalb von China gelesen zu werden?

Nein, eigentlich nicht. Für einen Schriftsteller ist es ungeheuer wichtig, in der eigenen Sprache und in dem Land gelesen zu werden, in dem seine Figuren leben. Ist man gezwungen, "nur" für ein ausländisches Publikum zu schreiben, könnte es passieren, dass man die Leidenschaft verliert.

In der deutschen Übersetzung wird eine eher einfache, packende Sprache verwandt. Obwohl man als Leser weiß, wie blutig das Ganze enden wird, folgt man den beiden Hauptpersonen fieberhaft auf dem Weg ins Desaster. Und findet sich bestens unterhalten. Trotz der grausamen und niederdrückenden Thematik.

Schön. Danke. Eigentlich habe ich den Roman wie eine Oper angelegt. Vielleicht habe ich ein bisschen an Wagner gedacht. Die Hauptfigur des Romans, die Mutter eines Studentenführers, erhebt erstmals ihre Stimme gegen den Staat, als ihr Haus im Zuge der Vorbereitung für die olympischen Spiele abgerissen wird. Am Ende steht sie allein mit ihrer Weigerung, sich umsiedeln zu lassen.

In ihrem Schicksal wiederholt sich die Geschichte vom Massaker auf dem Tiananmen. Ihr Sohn ist auf dem politischen Schlachtfeld gefallen, sie fällt zehn Jahre später dem Markt zum Opfer.

Welche Folgen hat die Einführung des Kapitalismus für das Selbstverständnis der neuen Mittelschichten?

Die Wertevorstellungen der Mittelschicht scheinen mir noch immer sehr chaotisch zu sein. Ursache dafür ist der totale Materialismus, der mittlerweile in China herrscht. Und wenn man keine geistigen Werte mehr hat und nebenbei auch noch reich wird, das finde ich ziemlich gefährlich.

Warum?

Weil das Gefühl von Leere zunimmt, wenn keine geistige Nahrung zur Verfügung steht. Gleichzeitig kontrolliert die KP noch die Moral der Chinesen. Die Fixierung auf das Geld, die moralische Disziplinierung und die fehlenden kulturellen Angebote, in der Summe führt das zu einer riesigen intellektuellen Verarmung.

In Deutschland gehen viele davon aus, dass erst eine finanziell einigermaßen abgesicherte Mittelschicht sich über gesellschaftliche Fragen Gedanken machen wird.

Sicher. Aber der chinesische Mittelstand ist nicht unmittelbar vergleichbar mit dem deutschen. Die Kluft zwischen den Unterschichten und der Oberschicht etwa wächst viel schneller als in Deutschland und ist unvergleichbar viel größer.

Als ich kürzlich in der Erdbebenregion in Sichuan war, konnte ich gar nicht glauben, wie weit Reich und Arm sich voneinander entfernt haben. Für die Mittelschicht bedeutet dieses Auseinanderdriften: Sie reitet auf einem Tiger. Solange sie oben bleibt, ist das o. k. - aber wehe, sie fällt runter.

Wer genau ist jetzt der Tiger, die Armen oder die Reichen?

Die Armen. Im Moment drängen zigtausend Bauern vom Land in die Stadt, um dort als Wanderarbeiter Geld zu verdienen. Finden sie keine Jobs, können sie meist nicht mehr zurückkehren, denn sie haben ihr Land aufgegeben. Die reichen Städte werden so von armen Wanderarbeitern umzingelt, die alles verloren haben.

Sie prophezeien einen Bürgerkrieg?

Selbst nach der offiziellen Statistik gibt es jährlich 15.000 Proteste in China. Und das einzige Mittel, das die Regierung im Moment dagegen hat, ist die Unterdrückung. Die wissen einfach nicht, was sie anders mit der Rebellion machen sollen, als sie niederzuschlagen.

Hoffen Sie darauf, dass es mal richtig explodiert, damit sich etwas ändern kann?

Jetzt sprechen Sie von Revolution. Aber die Kommunistische Partei wird eine solche um jeden Preis vermeiden wollen. Und natürlich will ich nicht, dass Gewalt ausbricht.

Worauf genau setzen Sie Ihre Hoffnungen?

Auf Reformen - und auf Reformer, die in der Lage sind, sich dem ungesunden System zu stellen. Bislang aber fehlt von einem chinesischen Gorbatschow jede Spur.

Sie trauen der Partei also zu, dass sie sich demokratisieren kann?

Ja. Ich bin kein Optimist, aber zur Partei sehe ich keine Alternative. Wenn sie keine Reformen zulässt, wird es keine geben.

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