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Veränderter Führungsstil in der PolitikJede Zeit braucht ihre Heldenfiguren

Früher bewunderte man Regierungschefs als Vaterfiguren, heute herrschen Meister der Obszönität vor. Gefragt sind aber Helden des Pragmatischen.

Umjubelt: Zohran Mamdani nach seinem Sieg bei den Bürgermeisterwahlen, NYC, USA, am 4.11.2025 Foto: Yuki Iwamura/AP/dpa

F reiheit entsteht nur gemeinsam und nicht durch einzelne Heldenfiguren – so umreißt der amerikanische Historiker Timothy Snyder das Handlungsfeld der heutigen Politik. Er erinnert daran, dass sich dieses zwischen zwei Extremen bewegt: Auf der einen Seite ein paar „Titanen“, die sich ihre Freiheit nehmen, und auf der anderen Seite das Schaffen gerechter Voraussetzungen für alle.

So sehr Snyder in Bezug auf die Freiheit zuzustimmen ist, so sehr scheint das mit den politischen Heldenfiguren fraglich. Oder zumindest kompliziert. Und das nicht nur heute.

Vor kurzem hat die Zeit vier Weggefährten des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt versammelt. Es waren dies: TV-Moderatorin Sandra Maischberger, Ex-Finanzminister Peer Steinbrück, der Autor Thomas Karlauf und Chefredakteur Giovanni di Lorenzo. Sie begingen Schmidts zehnten Todestag mit etwas, was man nicht anders als eine politische Séance nennen kann. Eine Art politisch-spiritistische Sitzung, wo man versuchte, mit dem Geist des Verstorbenen in Kontakt zu treten.

Die vier, beglaubigt sowohl durch persönliche Kontakte zu Lebzeiten als auch durch inhaltliche Auseinandersetzungen, lieferten das Medium, um Schmidt zu aktuellen politischen Ereignissen zu befragen: Was würde er dazu sagen?

Die Autorin

Isolde Charim ist Publizistin in Wien.

Es geht hier nicht um Schmidts mögliche Antworten auf Fragen zum Ukrainekrieg oder zum Aufstieg der AfD. Es geht hier vielmehr um die Art von Figur, die dabei skizziert wurde.

Politiker zum Welterklärer erhöht

Ein Politiker mit Weitblick für die große Politik – ein Politiker, der sich nicht mit kleinlichen Fragen aufhielt (wie etwa Minderheitenrechte), sondern einen „historischen Tour d’Horizon“ bot – also den Feldherrnhügel der Politik. Der, auf dem man den großen Überblick hat. Der, der den Politiker zum Welterklärer erhöht. Ein Vater, zu dem man aufschaut. Und folgerichtig meinten viele, als er 1982 abtreten musste, „sie fühlten sich nicht mehr beschützt“.

Auch die nüchterne Nachkriegspolitik hatte also ihre Heldenfiguren. Was diese Zeit von heute unterscheidet, ist nicht eine Politik des Gemeinsamen anstelle von herausragenden Figuren, sondern die Art des politischen Helden.

Denn heute sind diese keine Väter, denen man Wissen – mehr Wissen, mehr Überblick als man selber hat – unterstellt. Heute sucht man kein Mehr an Können, an Weitblick. Der heutige politische Held soll nur ein Mehr an Entschlossenheit, an Unverfrorenheit und an Schamlosigkeit bieten. Slavoj Žižek hat für sie eine treffende Bezeichnung vorgeschlagen: Es sind die neuen „Meister der Obszönität“.

Das sind jene, die das, was einstmals subversiv war, als neue Machttaktik betreiben: sich offen ausleben, sich schamlos bedienen. „Selbstvergötterung“ (Snyder) in aller Öffentlichkeit, vor aller Augen.

Auch Klassenpolitik braucht herausragende Figuren

Aber nicht einmal für die Gegenkräfte steht das Gemeinsame anstelle der Heldenfigur im Zentrum.

Selbst dort, wo man der Forderung nachkommt, nicht die eigene Identität in den Vordergrund zu stellen, sondern Sachfragen. Keine Identitätspolitik zu betreiben, sondern Klassenpolitik. Wie bei der Bürgermeisterwahl in New York.

Da ging es angesichts von exorbitanten Kosten um bezahlbares Leben, um erschwingliche Mieten, um Gratiskindergärten, um kostenlose Busse. Da ging es um Energie, um Nachhaltigkeit, um wirtschaftliche Agenden. Und da ging es um Besteuerung der Superreichen, um eben das zustande zu bringen, was Snyder forderte: das Schaffen von gemeinsamen Bedingungen, die Freiheit für alle bieten.

Und selbst dafür, selbst für solch eine sachliche Politik ohne jeden Kulturkampf. Selbst für solche pragmatischen Fragen bedurfte es einer herausragenden Figur, damit solche Politik erfolgreich sein kann. Zumindest damit man Wahlen gewinnt, Mehrheiten versammelt. Und der gebündelte Hass, der Zohran Mamdani traf, all die Verdächtigungen bis hin zur schlimmsten Invektive „Sozialist“ bestätigten noch einmal – sozusagen ex negativo – seine Sonderstellung.

Das aber heißt: Selbst für eine Politik des Gemeinsamen braucht es Helden – wenn auch anderer Art. Heldenfiguren fürs Pragmatische.

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2 Kommentare

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  • Ist es nicht vielleicht eher so, dass die Medien HeldInnen und ihre Geschichten brauchen, „aufbauschen“ und publik machen? Klappern gehört zum Handwerk der Medienschaffenden wie zu dem des Müllers am rauschenden Bach. Das gilt seit den Urzeiten der Geschichtenerzähler und Bänkelsänger: Der Köder muss dem Fisch schmecken. Unterhaltsame, berührende, aufrührende Kost gefällt dem breiten Publikum und die Medienmachenden machen sich das, wie PolitikerInnen, Werbungtreibende, Nepper und Bauernfänger, zunutze. Dem Publikum macht man dann noch weis, es brauche diese Geschichten, wie Wasser und Brot oder mindestens zum eigenen Wohlbefinden.

  • Wenn es „selbst für eine Politik des Gemeinsamen […] Helden [braucht]“, dann weil das Gemeinsame seit Jahrzehnten mit aller Macht diskreditiert wird von medial verstärkten Lautsprechern mit überragendem Sendungsbewusstsein und gefräßigen Ego. So sehr, dass sich kaum noch jemand traut, es auf die Tagesordnung zu setzen. Schon gar nicht ganz weit oben.

    Ilko-Sascha Kowalczuk irrt: Nicht der (nicht real existiert habende) Sozialismus (der vom Kommunismus so weit entfernt ist wie die AfD von der Demokratie) ist das Problem, sondern der Neoliberalismus. Der nämlich trifft massenhaft auf einen naiven Autoritätsglauben. Zu viele hoffen heimlich auf den guten (Märchen-)König ihrer Kindheit, dem sie sich voller Lust unterwerfen können, weil der ihnen erlaubt, sich 24/7 dem eigenen Fortkommen und der persönlichen Wohlstandssicherung in einer deregulierten Wettbewerbsgesellschaft zu widmen, während er wie Gott im Namen Aller das Gute und Wahre wirkt vom „Feldherrenhügel der Macht“ aus.

    Moderne Staaten sind auch von pragmatischen Helden NICHT zu überblicken. Und wo die Macht verführt, wird sich immer eine:r finden, der/die sie dringender als alle anderen missbrauchen will. Der herrscht dann.