Vater-Sohn-Beziehung: Auf Silberpapier
In seinem Debüt „Irgendwann kommt immer ein Meer“ sucht Nils Langhans den toten Vater in der Sprache wiederzufinden.
Zervelatwurst, Saskia-Quelle, Hautschichten, Waschbeton, ein Meer, ein Opel Astra. Ein Eindruck der Dinge, die den Vater umkreisten. Er steht in konservierten Bildern, der Sohn steht an seinem Grab. Als „du“ und „ich“ begegnen sie sich in Erinnerungen: Der Sohn, mal Junge, Bruder, mal Student, erzählt sich und sein Gegenüber, den toten Vater, den Jungen, den Kranken, den Sterbenden.
Orte, Fotos, Situationen blitzen auf: Wir sehen den Vater als Sechsjährigen allein zur Kur auf Borkum, seine von Schuppenflechte verwundete Haut, wie er in Tabellen das Sparguthaben überwacht, seine Angst, dass die Familie nicht genug hat, wie er für den Opel Astra gespart hat, wie er seinem Sohn trotzdem den teuren Anzug kauft, wie er an der Morphiummaschine hängt, wie er viel zu krank für einen einzigen Menschen ist. Wie die Ungewissheit des Anfangs, sein „cancer of unknown primary“, sich ein eigenes Ende schreibt.
Aus diesen Erinnerungen konstruiert Nils Langhans eine innige Vater-Sohn-Beziehung. Mal ist es die Sehnsucht nach einer „schweren, warmen Hand“, dann die Unmöglichkeit, die „Enge“ des Vaters zu verlassen. Langhans erkundet den Raum zwischen Anwesenheit und Abwesenheit: Wie trifft man jemanden in der Sprache, ohne an ihm vorbeizuschreiben?
Erinnerungen in Episoden
Nils Langhans: „Irgendwann kommt immer ein Meer“. Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2025, 128 Seiten, 20 Euro
Dieses Buch ist der Versuch, einen Menschen im Erinnern zu finden. Es ist der Versuch, sich als dabei Gewesener, als noch da Seiender zu begreifen. Langhans erzählt die Erinnerungen, so wie sie erscheinen, in kurzen Episoden, in Absätze zerstückelt. Da werden Sätze angebrochen, Worte durch Doppelpunkte, Stichpunkte und Kommata in Beziehung gesetzt. Als wäre dieses Buch aus Silberpapier. Es ist das Mühsame an der Trauerarbeit, jedes einzelne Blatt glattzustreichen, bis ein klares Bild entsteht.
Die Erinnerungen werden „unscharf“, „Zerr–“ oder „Standbilder“. Es bleiben einzelne Sinneseindrücke, die ihre Ordnung in einem Ganzen suchen. An einer Stelle heißt es, erinnern bedeutet „ein Tröpfeln und Quetschen aus dichter Erde; und viel, was versickert“.
Dieses Buch zielt auf Genauigkeit, auf Treue den Gesetzen der Sprache gegenüber. Es scheitert unweigerlich daran, weil das Erinnern nicht genau sein kann. Langhans schreibt sich heran, so sorgsam wie möglich, pflückt Erinnerungsfetzen wie Blätter, konzentriert sich auf die Auseinandersetzung mit dem Wort: Jede der Passagen verdichtet sich in sich, wird Stichpunkt für Stichpunkt intensiver.
Es wird akribisch mit Worten gemalt – sie bilden die Palette eines Gemäldes ab: „brauner Mutterboden“, „am Horizont knuspriges Rot“, „Wind, der bläulich flattert“. Die Haut des Vaters wirkt aufgeschichtet wie „kleine Inseln, teils aufgekratzt, blutig, teils schuppig weiß“.
Die kranke Haut ist das Verbindende
„Du wirst wie ein Aussätziger angesehen“, sagt der Sohn, der den gleichen Gen-Code geerbt hat. Er verbindet die beiden über ihre Haut, führt den Satzanfang des einen in dem anderen weiter. Leitet das Eigene des Vaters in das Eigene des Sohnes. Dieses Buch ist der Versuch, ein gemeinsames Bild zu erschaffen, der unstillbare Wunsch, eines zu teilen.
Mit 19 Jahren zeichnet der Vater mit Pastellkreiden, Kohle, vor allem Augen. Er hört auf, als der Sohn zur Welt kommt. „Du bist jetzt selbst ein Vater; du beginnst schon, deine Sprache zu verlieren“, stellt der Sohn fest, als er die Zeichnungen durchblättert. Der Vater ist kein Künstler, sondern Finanzbeamter geworden, dem Versprechen von Sicherheit gefolgt.
Kampf um Deutungshoheit
Auf die Enge, die sich sprachlich wie inhaltlich spiegelt, folgt so oft die schmerzhafte Erkenntnis: „Wie ich über dich schreibe, verliere ich dich ein zweites Mal: das endgültige Mal“. Jemanden zu überschreiben, sich selbst weiterzuschreiben oder nur Weitergeschriebenes zu sein, ist ein Kampf um Deutungshoheit. Einer, der nur allein gewonnen, verloren, herumgerissen werden kann.
So ist dieses Buch auch ein schweigendes, erzählt von einem Sohn, der einem Tod zusehen musste. Vielleicht kann die Stummheit erst gebrochen werden, wenn der Sohn aus dem Bild des Vaters tritt. Wenn er sich entscheidet: verabschieden statt erinnern, verlassen statt verlieren. Wenn etwas aus der Erde sprießt und nicht versickert. Nils Langhans zeigt, dass Blumen wieder austreiben können.
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