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Urteil in den NiederlandenSterbehilfe für Demenzerkrankte

Auch bei schwer an Demenz Erkranten ist aktive Sterbehilfe zulässig, so das Gericht. Dafür braucht es eine entsprechende Patientenverfügung

Mit Patientenverfügung in den Niederlanden möglich: Sterbehilfe für Demenzkranke Foto: Sebastian Kahnert/dpa

Amsterdam taz | Patienten mit fortgeschrittener Demenz können in den Niederlanden künftig Sterbehilfe erhalten, auch wenn diese nicht mehr in der Lage sind, eine zuvor aufgesetzte Erklärung zu bestätigen. Dies urteilte am Dienstag der Hoge Raad, das oberste Gericht der Niederlande, in Den Haag. Mediziner dürfen demnach einem „schriftlichen Ersuchen um Sterbehilfe“ nachkommen, ohne dass die entsprechende Erklärung mündlich bestätigt werden muss, so Willem van Schendel, der Vizepräsident des Gerichts.

Die Bedingungen: Die sogenannten Sorgfältigkeitskriterien, ein zentrales Element des niederländischen Sterbehilfegesetzes von 2002, müssen erfüllt sein. Unter anderem muss die betreffende Person „aussichtslos und unerträglich leiden“. Das müssen insgesamt zwei unabhängige Ärzte bestätigen. Darüber hinaus muss in der Patientenverfügung zudem ausdrücklich erwähnt sein, dass aktive Sterbehilfe geleistet werden soll, wenn derjenige „als Folge fortgeschrittener Demenz seinen Willen nicht mehr äußern kann“.

Hinter dem Urteil in letzter Instanz steht ein heftig umstrittener Fall von Sterbehilfe an einer 74-jährigen Demenzpatientin in einem Pflegeheim in Den Haag im Jahr 2016. Diese hatte, nach vergleichbaren Erfahrungen mit ihrer Mutter, zuvor eine entsprechende Verfügung aufgestellt. Mündlich gab sie jedoch nunmehr, so niederländische Medien, „widersprüchliche Signale“.

Die Ärztin, die in Absprache mit den Angehörigen die Verfügung ausführte, hätte daher intensiver mit ihrer Patientin sprechen müssen, folgerte die Staatsanwaltschaft. Im Spätsommer 2019 musste sich die inzwischen pensionierte Medizinerin daher vor einem Gericht in Den Haag wegen Mordes verantworten.

Prozess um Rolle von Ärztin

Sie wurde letztlich freigesprochen, weil sie die besagten Kriterien sorgfältig eingehalten und „keine Fehler gemacht“ habe. Es war das erste Mal, dass es in einem Sterbehilfeprozess in den Niederlanden um die Rolle ausführender Ärzte ging.

Die Staatsanwaltschaft hatte das oberste Gericht daraufhin um ein Grundsatzurteil gebeten, um Klärung in solchen Fällen zu erlangen. In den Niederlanden wie auch in Belgien, wo aktive Sterbehilfe ebenfalls seit 2002 legal ist, gibt es seit langem Diskussionen über die Anwendung des Gesetzes bei Demenzerkrankten, was nur sehr selten geschieht. 2019 gab es 6.361 Fälle von aktiver Sterbehilfe in den Niederlanden, darunter waren zwei Patienten mit schwerer Demenz.

Das Urteil von Den Haag wurde daher mit Spannung erwartet. Es handele sich um „einen Schritt voraus“, erklärte im Rundfunksender NOS Steven Pleiter vom Sterbehilfe-Expertisezentrum, einem unabhängigen Netzwerk von Ärzten und Fachleuten mit Sitz in Den Haag. Sterbehilfe bei mangelnder Einwilligungsfähigkeit bleibe weiterhin komplex und bedürfe „äußerster Sorgfalt“.

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5 Kommentare

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  • Was soll man da noch sagen. Menschen sprechen anderen Menschen das Recht auf Leben ab mit dem Verweis dass diese es ja "selber so gewollt haben".

    Dass die Betroffenen aufgrund ihrer Demenz gar nicht mehr in der Lage sind ihren Willen in der aktuellen Situation zu äußern spielt keine Rolle.

    Befürworter dieser Selektion sollten sich mal überlegen dass sie schneller als gedacht selber in diese Situation kommen können, und dann als "nicht mehr lebenswert" aussortiert werden.

    Es ist einfach nur erschreckend.

    • @Poseidon:

      Poseidon: Sie irren. Es gibt Menschen, die in guten Tagen eine solche Verfügung treffen. Das ist Selbstbestimmung!

  • Meine Mutter war geistig rege, bis sie mit 79 eine Reihe von unvermeidlichen Operationen über sich ergehen lassen musste. Danach war sie dement. Bis kurz vor ihrem Tod aufgrund einer akuten Krankheit fand sie Dinge, an denen sie Freude hatte, Bilder, Plüschtiere, meine Besuche, auch wenn sie mich oft nicht erkannte. Bis dahin hatte ich immer geglaubt, wenn ich dement werde, will ich sterben. Jetzt nich mehr. Einen Menschen zu töten, der leben will, und dies, wie auch immer zu verstehen gibt, kommt mir wie die ultimative Grausamkeit vor. Mein Vater wollte immer, dass bei ihm keine lebenserhaltenden Maßnahmen durchgeführt werden, und ich hatte nie einen Zweifel daran, dass er dies nur wünschte, um meiner Mutter möglichst viel vererben zu können. Er starb vor ihr an einem schweren Schlaganfall. Mein Mann kämpfte bis zu seinem letzten Atemzug um seine Leben und starb mit der Hoffnung, dass er wieder gesund würde. Er wollte, dass jede Maßnahme angewendet werde, die sein Leben verlängert. Ich war sehr dafür. Wäre es nicht schön, wenn das Überleben nicht vom Geldbeutel oder der Anzahl der Intensivbetten abhinge sondern wirklich vom eigenen, aktuellen Willen des Patienten und nicht dem seiner Erben?

  • 9G
    97287 (Profil gelöscht)

    Na endlich, bei einer Zunahme von Demenzerkrankungen endlich ein Lichtblick für die zunehmende Belastung der Sozialsysteme in Holland und eine Entlastung für das Pflegepersonal. Holland war schon immer einen Schritt voraus, auch wenn die Sterbehilfe ein äußerst komplexes Thema ist. Aber man kann ja schon mal den ersten Schritt tun. Meine Frage ist aber hier : War es der Wunsch der Patientin oder der Angehörigen? Fühlte sich die Ärztin in Ihrer Therapiefreiheit eingeschränkt? Wer hat den Prozess ins Rollen gebracht?

    • @97287 (Profil gelöscht):

      Mir scheint hier Vorsicht geboten. Immerhin laufen bei uns jetzt schon Leute auf der Strasse rum und fordern, man möge doch Flüchtlinge bitteschön im Mittelmeer ertrinken lassen. Demenzkranke sind ebenso "nutzlos", doch während Flüchtlinge sehr wohl etwas zum Reichtum des Landes beitragen können, fällt dieser Aspekt bei Dementen weg. Stattdessen verursachen sie enorme Kosten, die sich voraussichtlich in den kommenden zehn Jahren noch verdoppeln werden. Wie lange wird es dauern, bis die herzlosen Hassverbreiter ihre unmenschlichen Parolen auf sie ausdehnen werden, und was werden wir dann tun, die wir (noch?) nicht erkrankt sind? Es lohnt sich sicher, sich jetzt schon Gedanken zu machen. Woher soll in Coronakrisenzeiten die Kohle für die Pflege von Leuten kommen, die sich doch nie erholen werden? Mir gruselt's vor meinen eigenen Fantasien.