Urteil im Pelicot-Prozess: Mazan ist überall
Der Aufsehen erregende Prozess gegen Gisèle Pelicots Vergewaltiger endete mit milderen Strafen als erhofft. Hoffnung geht von diesem Fall trotzdem aus.
E s gibt eine Zeit vor und eine Zeit nach dem Pelicot-Prozess. Davor dachte man, es handle sich um einen Einzelfall. Da dachte man, Vergewaltiger gestehen ihre Taten zumindest dann, wenn sie dabei gefilmt werden. Für die Zeit danach, die nun angebrochen ist, hoffte man, sie sei mit weniger Frauenhass, einer gerechten Justiz, mit einer veränderten und bewussteren Gesellschaft verbunden.
Das Urteil, das in Avignon vergangenen Donnerstag nach drei Monaten und 17 Tagen Prozess ausgesprochen wurde, ist ein Sieg, der zugleich ernüchtert und enttäuscht. Von den insgesamt 652 Jahren, die die Staatsanwaltschaft für die 51 Angeklagten forderte, wurden nur 428 vergeben. 224 Jahre lösen sich in Luft auf. Bis auf Dominique Pelicots Strafe wurden die für alle anderen gemindert, sechs Angeklagte sind auf freiem Fuß. „Mon client est libre!“, „Mein Klient ist frei“, ruft Maître Bruschi, Verteidiger von Joseph C., ins Gesicht der Demonstrierenden vor dem Gerichtssaal. Die skandieren: „Schande über die Justiz!“
Eine Vergewaltigung kann in Frankreich mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft werden. Kommen erschwerende Umstände hinzu, sind es bis zu 20 – so viel bekam nur Dominique Pelicot. 20 Jahre für die massenhafte Vergewaltigung seiner damaligen Frau, für das Filmen ohne ihr Wissen, für die Betäubung, für die Auslieferung an knapp hundert andere Männer – nur die Hälfte stand vor Gericht.
20 Jahre sind für dieses monströse Handeln ein Klaps auf die Finger. Ein Klaps mit einer absurden Konsequenz: Die Strafen der übrigen Angeklagten wurden in Relation zu seiner Strafe erwogen.
Romain V. etwa vergewaltigte Gisèle Pelicot sechsmal, ohne Kondom, obwohl er HIV-positiv ist. Er bekam 15 Jahre. Warum nicht die Höchststrafe? Nur weil er nicht Dominique Pelicot ist? Oder Saifeddine G.: Auf dem Video aus dem Schlafzimmer sah man, wie seine Hüfte sich vor- und zurückbewegte, jedoch hatte er nach eigenen Angaben keine Erektion.
Weil er Gisèle Pelicot nicht erfolgreich penetrieren konnte, bekam er drei Jahre. Ist es also keine Vergewaltigung, wenn der Mann seinen Spaß nicht kriegt? Philippe L. penetrierte Pelicot nur mit dem Finger und bekam deswegen fünf Jahre. Ist die Penetration mit dem Finger eine Drittelvergewaltigung?
Über diese Fragen zu meditieren, ist als Frau schmerzhaft. Und sinnlos, wenn man bedenkt, dass es eine gute Studienlage dafür gibt, das härtere Strafen nicht davor abhalten, kriminell zu werden. Zudem vergisst man dabei, dass der Prozess ein riesiges Ziel erreicht hat: Keiner der 51 Angeklagten kommt unschuldig davon – auch nicht die 32 Männer, die darauf plädiert hatten. Gisèle Pelicot wollte, dass ihre Kinder und Enkelkinder diesen Nachnamen mit Stolz tragen können. „Wenn sich die Welt diesen Namen merkt, dann nicht wegen Monsieur Pelicot, sondern wegen mir.“ Auch das Ziel hat sie erreicht.
Der Prozess liefert eine Diskussion, die über das bloße Bestrafen hinausgeht. Er stellte von Beginn an die Möglichkeit für ein großes Aufwachen dar, welchen Gefahren Frauen ausgesetzt sind, realen Gefahren, die es nicht nur im provenzalischen Hinterland gibt.
Eine am Mittwoch veröffentlichte Recherche von STRG_F deckt ein internationales Netzwerk von Vergewaltigern auf der Messengerplattform Telegram auf. Sie geben einander in verschiedenen Chaträumen Tipps über die besten Betäubungsmittel, tauschen Bilder und Videos der Vergewaltigungen aus und lassen sich von anderen Mitgliedern Anweisungen geben, etwa darüber, in welche Körperöffnung oder mit welchem Objekt sie die betäubte Person als Nächstes penetrieren sollen. In der Gruppe sind knapp 73.000 Mitglieder, auch aus Deutschland. Man weiß also: Dominique Pelicot ist überall. Mazan ist überall.
Als STRG_F diverse Behörden, darunter das New York Police Departement, das deutsche Bundesjustizministerium, aber auch Innenministerin Nancy Faeser mit den Informationen konfrontiert, zeigen die sich recht desinteressiert. Die Telegram-Gruppen gibt es weiterhin, genau wie es coco.gg – die Seite, auf der Dominique Pelicot seine Frau im Raum „à son insu“ („ohne ihr Wissen“) anderen zur Vergewaltigung anbot – noch vier Jahre lang gab, nachdem Pelicot 2020 erwischt wurde.
Inadäquat, schlecht ausgestattet, gleichgültig. Eine unbequeme, aber zutreffende Beschreibung für diejenigen, die eigentlich Schutz und Gerechtigkeit für Opfer herstellen sollten. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass den Verantwortlichen Frauen nicht wichtig genug sind. Das System ist kaputt und muss repariert werden.
Doch bei aller Enttäuschung verdanken wir Gisèle Pelicot eine große Hoffnung. Als sie nach der Urteilsverkündung den Gerichtssaal verlässt und sich an die zahlreichen auf sie wartenden Medien wendet, endet sie optimistisch: „Ich habe nun Vertrauen in unsere Fähigkeit, gemeinsam eine Zukunft zu gestalten, in der Frau und Mann in Harmonie, gegenseitigem Respekt und Verständnis leben können.“ Auf dass diese Zukunft irgendwann eintritt.
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