Urteil im Molotow-Cocktail-Prozess: Freispruch für Berliner Jugendliche
Als Yunus und Rigo am 1. Mai 2009 verhaftet wurden, dachten sie, die Verwechslung würde schnell aufgeklärt. Die Schüler blieben 230 Tage in U-Haft. Nun wurden sie freigesprochen.
BERLIN taz | Nein, sagt Rigo, nach Kreuzberg werde er am 1. Mai nicht noch einmal gehen. "So dumm könnte man einfach nicht sein." Sein Bekannter Yunus sieht es ähnlich.
Jetzt sitzen sie mitten in Kreuzberg, im Clash an der Gneisenaustraße. Stammkneipe vieler Linksalternativer, in einem Hinterhofkomplex. Dicht hängt Zigarettenqualm in den dunklen Räumen, aus den Boxen zimmert Punk. Ganze Nächte habe er hier verbracht, sagt Yunus. Der 20-Jährige dreht sich eine Zigarette. Rigo, 17 Jahre, bestellt Cola. Eigentlich hatte er nie viel mit Yunus zu tun. Rigos großer Bruder Sava ist der beste Freund von Yunus.
Doch der vergangene 1. Mai verbindet die beiden, der Tag, an dem aus zwei Waldorfschülern zwei Mai-Randalierer werden sollten, die "den Tod einer oder mehrerer Menschen billigend in Kauf genommen" hätten. So steht es in der Anklage. Siebeneinhalb Monate, 230 Tage, saßen Yunus K. und Rigo B. in Untersuchungshaft. Nun wurden sie vom Berliner Landgericht nach 23 Verhandlungstagen freigesprochen. Der ursprüngliche Vorwurf: versuchter Mord. Am 1. Mai sollten sie in Kreuzberg gegen 21.30 Uhr einen Molotowcocktail auf Polizisten geworfen haben. Am Kottbusser Tor, dort, wo zuvor die "Revolutionäre 1. Mai"-Demo zu Ende ging. Der Brandsatz schlägt vor den Beamten auf, doch Teile des brennenden Feuerballs treffen eine dort stehende 28-Jährige. An ihrem Rücken schlagen Flammen empor, die Frau erleidet Verbrennungen zweiten und dritten Grades.
Doch Yunus und Rigo bestreiten die Tat, haben dies von Anfang an getan. Alles müsse eine große Verwechslung sein.
Tatsächlich sehen Yunus und Rigo nicht wie autonome Straßenkämpfer aus. Rigo wohnt bei seinen Eltern im beschaulichen Stadtteil Zehlendorf. Einfache Leute seien sie, sagt Rigos Vater, ein Schlosser, katholisch. Die Zeit ohne seinen Sohn sei "unerträglich" gewesen.
Yunus sagt, Gewalt mache ihm eher Angst. Intelligent sei Yunus gewesen, erzählt seine frühere Russischlehrerin. Aber kein Musterschüler: "Das Nachtleben war oft verführerischer als Hausaufgaben."
Yunus wohnt nicht weit vom Clash. Bei seiner Mutter, einer türkischstämmigen Heilpädagogin. Früher auch ab und an bei seinem Vater, einem Elektromeister. Seine geschiedenen Eltern wollten nicht, dass er am 1. Mai nach Kreuzberg geht. Yunus stand unter Bewährung, verurteilt für einen Flaschenwurf in der Walpurgisnacht 2007. Er bestreitet die Tat bis heute.
Sie seien am 1. Mai nach Kreuzberg gefahren, um zu sehen, was da so los ist, erzählen die Jungen. Zufällig hätten sie sich getroffen und am Rande die Demo begleitet. Als sie zur Sparkasse gehen wollten, um Geld zu holen, seien sie plötzlich festgenommen worden. "Da dachten wir noch, die merken den Irrtum schnell", sagt Rigo.
Der Prozess gegen Yunus und Rigo, er hätte ein Lehrstück für all die linken Krawallos werden können. Versuchter Mord: Noch nie war nach einem Berliner 1. Mai eine derart schwere Anklage erhoben worden.
479 Polizisten wurden 2009 am 1. Mai in Berlin verletzt, 289 Personen festgenommen - so viele wie seit Jahren nicht mehr. Dazu zählte die Polizei 221 "politisch motivierte" Autobrände im vergangenen Jahr. Farbbeutel und Brandsätze flogen auf Polizeiwachen, Jobcenter und Gerichte. Lange nicht gerierte sich die Berliner linksautonome Szene so selbstbewusst wie zuletzt.
Doch der Prozess im Landgerichtssaal 817 gerät zur Farce. Zwei Polizisten, die Hauptbelastungszeugen, sagen aus, die Schüler beim Wurf des Molotowcocktails gesehen zu haben. Keine Gesichter zwar, aber die auffällige Kleidung des Werfers: weißes T-Shirt, dunkles Basecap. Sie seien ihnen gefolgt, hätten sie an einer Polizeikette festgenommen. Könnten Sie die Angeklagten, fragt die Richterin, im Gewühl verwechselt haben? Nein, schütteln die Beamten den Kopf.
Objektive Beweise, die gegen Yunus und Rigo sprechen, fehlen. Die beiden Angeklagten fordern, Fotos und Videos von der Tat heranzuholen. Gibt es nicht, sagt die Polizei. Sie beantragen, ihre Kleidung auf Benzinspuren zu untersuchen. Es findet sich nichts. Zeugen, die aussagen, sie hätten die Täter gesehen, schließen Yunus und Rigo als Werfer aus. Zwei Filmstudenten präsentieren gar ein Foto, das sie von der Tätergruppe gemacht haben wollen. Darauf abgebildet: ein junger Mann mit weißem Shirt und Basecap - nicht aber Yunus und Rigo.
Die U-Haft aber blieb. An der Glaubwürdigkeit der Polizisten gebe es keine "ernsthaften Zweifel", so Richterin Petra Müller, eine resolute, immer wieder nachhakende Frau.
486 Menschen sitzen derzeit in Berlin in Untersuchungshaft. 43 von ihnen in der Jugendstrafanstalt Kieferngrund, so auch Rigo. 90 Prozent alle Untersuchungshäftlinge verließen sein Haus nach rund sechs Wochen, überschlägt Kieferngrund-Leiter Marius Fiedler. Die anderen, "schweren" Fälle blieben durchschnittlich drei Monate. "Einen gab es noch", sagt Rigo, "der länger drin war als ich."
"Ohmacht, absolute Ohnmacht", hätten sie in der JVA und vor Gericht gefühlt, erzählen Yunus und Rigo heute. Vor allem Yunus zieht sich in der JVA immer weiter zurück. Seine Freunde beginnen ihr Studium, der 20-Jährige baut hinter Gittern Puppenmöbel und Bauernhoftiere. "Ich habe solche Angst, dass hieraus Jahre werden können", schreibt Yunus in einem Brief an seine Mutter. Es ist der Gefängnispfarrer, der sich viel Zeit für ihn nimmt.
Yunus legt in der JVA sein Abitur ab. Auch Rigo besteht dort seinen mittleren Schulabschluss. Der Ermittlungsführer der Polizei ist angetan, schreibt im August: "Das Auftreten des B. ließ darauf schließen, dass er aus den strukturierten Abläufen sowie den Umgangsformen in der Jugendstrafanstalt für seine Persönlichkeit einen Nutzen gezogen hat." "So was Bescheuertes", kontert Rigo heute energisch.
Erst als eine Verteidigerin Strafanzeige gegen die Unbekannten auf dem Foto erstattet, wird ermittelt. Mit Erfolg: Ein Polizist erkennt zwei abgebildete 19-Jährige wieder. Bei Hausdurchsuchungen finden Beamte Fotos, auf denen eine Person mit Benzinkanister posiert, in einem Bettkasten entdecken sie einen solchen Kanister. Beschlagnahmt wird er nicht. Warum?
Mitschüler organisieren mittlerweile eine Kampagne: "Freiheit für Yunus und Rigo". Stellen sich mit Kerzen vor das Rathaus von Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD). An keinem Prozesstag reichen die Zuschauerplätze für alle Besucher aus.
Dann kommt der 17. Dezember, und alles bricht zusammen. Es bestehe kein dringender Tatverdacht mehr, verkündet Richterin Petra Müller plötzlich. Eine Verwechslung könne nicht mehr ausgeschlossen werden. Die U-Haft wird aufgehoben. "Das war intensiv, da ist die größte Last abgefallen", erinnert sich Yunus.
Es ist eine Vorentscheidung. Nun aber werden die Fragen noch lauter: Warum mussten Yunus und Rigo so lange in U-Haft sitzen? Warum wurde Entlastendes so spät berücksichtigt? Warum wurde überhaupt Anklage erhoben?
Peter Zuriel, Vorsitzender der Vereinigung Berliner Strafverteidiger, formuliert vorsichtig. Ein kritischer Fall sei das. Es gebe eine "gewisse Leichtgläubigkeit" der Gerichte, wenn es um Aussagen von Polizisten gehe. Das sei durchaus bedenklich, ebenso die lange U-Haft der Schüler, so Zuriel. "Dem Erziehungsauftrag des Jugendvollzugs wird man damit nicht gerecht."
Peer Stolle, Vorstandsmitglied des Republikanischen Anwältevereins, wird deutlicher. "Skandalös" sei die verhängte U-Haft. Fluchtgefahr anzunehmen sei abwegig gewesen, beide Angeklagten seien sozial fest integriert gewesen. "Die U-Haft hatte hier einen anderen Zweck", so Stolle. "Sie sollte als schneller Erfolg von Polizei und Staatsanwaltschaft verkauft werden, die Richtigen geschnappt zu haben."
Anfang Januar räumt der Chefermittler mögliche Versäumnisse ein. Im "allgemeinen Tohuwabohu" nach dem 1. Mai sei Entlastendes möglicherweise untergegangen, so der 38-jährige vor Gericht. Er und seine Kollegen seien überarbeitet gewesen.
Für Ulrich von Klinggräff, Verteidiger von Yunus, reicht diese Erklärung nicht. Eine Verurteilung der Anklagten sei angestrebt worden. "Das war zielgerichtet und systematisch, dafür war jedes Mittel recht. Das kann man nur mit politischen Interessen erklären", so von Klinggräff. Werner Throniker, Personalratschef des Berliner LKAs, mag das nicht glauben. "Natürlich werden bestimmte Straftaten immer mal wieder abstrakt zum Politikum, aber bei den konkreten Ermittlungen spielt das keine Rolle", so Throniker. Dennoch scheint es ein aufgeregtes Interesse zu geben, endlich Zeichen gegen linke Krawallakte zu setzen. Gab es vor Jahren für Autozündler noch Bewährungsstrafen, so wurde zuletzt ein 34-Jähriger, der einen VW Golf abgefackelt hatte, zu 3 Jahren und 3 Monaten Haft verurteilt. Strafverteidiger Peter Zuriel weist auch im Fall von Yunus und Rigo darauf hin, dass mit der Anklage des versuchten Mordes ein Brandsatzwurf - anders als in Vorjahren - deutlich "hochgewertet" worden sei. Es sei bedenklich, so Zuriels Kollege Peer Stolle, "dass sich die Justiz scheinbar politischem Druck beugt".
Oberstaatsanwalt Ralph Knispel, dem bisher nicht der Ruf eines Hardliners anhaftete, weist das zurück. Vielleicht sei in dem Prozess nicht alles so gelaufen wie gewünscht. Entscheidend aber sei das Gesamtbild. Und dabei lasse man sich weder von Emotionen noch von öffentlichen Forderungen leiten. Er beantragte Gefängnisstrafen: für Yunus vier Jahre und neun Monate, für Rigo drei Jahre und neun Monate. Yunus hat bislang vor, seinen Zivildienst zu machen. Momentan arbeitet er als Praktikant bei einer Internetfirma. Rigo ist zurück in seiner alten Klasse, auf dem Weg zum Abitur.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles