Urteil im Brokstedt-Prozess: Lebenslang für tödliche Attacke
Mit einem Messer ging Ibrahim A. in einem Regionalzug in Schleswig-Holstein auf Fahrgäste los, zwei Menschen starben. Das Gericht befindet auf Mord.
Demnach hält es die Kammer um den Vorsitzenden Richter Johann Lohmann für bewiesen, dass der heute 34 Jahre alte A. schuldfähig war, als er am 25. Januar 2023 in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg wahllos auf Mitreisende einstach, zwei Menschen tötete und vier Menschen verletzte. A. habe töten wollen, auch wenn der Grund unklar bliebe, sagte Lohmann. „Eine Antwort auf das Warum können wir nicht geben.“ Allerdings wies er darauf hin, dass A. sich in Billwerder mit dem Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz verglichen hatte, also bereits seit längerem über einen Amoklauf nachgedacht haben könnte.
„Es war eine außergewöhnliche Verhandlung um eine außergewöhnlich erschütternde Tat“, sagte Lohmann. Seit Juni wird in einem Saal im Gewerbegebiet der Kreisstadt Itzehoe verhandelt, über 90 Zeug:innen hörte das Gericht. Dabei ging es darum, die Abläufe im Regionalzug zu rekonstruieren, aber auch, ein Bild von A.s psychischem Zustand zu erhalten: Die Frage, ob er während der Tat unter Einfluss einer Wahnkrankheit stand, zog sich durch den gesamten Prozess.
In ihren Plädoyers hatten die Anwält:innen der Nebenklage an die Opfer erinnert, eine 17-jährige Schülerin und ihren 19-jährigen Freund, der durch Messerstiche starb, als er sie vor A.s Angriff beschützen wollte. Einer Frau fügte A. 13 Stiche zu, davon acht ins Gesicht, den Rest auf Hände und Arme. Sie behielt entstellende Narben im Gesicht, zudem waren Sehnen an den Händen durchtrennt, ein Daumen musste teilamputiert werden. Die Frau beging Monate nach der Tat Suizid: „Sie verlor ihren Lebenswillen“, sagte Lohmann.
Tat eröffnete eine bundesweite Debatte
Die Tat erschütterte Schleswig-Holstein und eröffnete eine bundesweite Debatte über Sicherheit in der Bahn, den Umgang mit psychisch auffälligen Häftlingen und Versäumnisse von Ausländerbehörden. Denn der staatenlose A. hatte vor der Tat in Untersuchungshaft in Hamburg-Billwerder gesessen, war aber in Kiel gemeldet. Weder wusste die Kieler Behörde von der Haft, noch erfuhr das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration (Bamf) von der Strafakte des gebürtigen Palästinensers.
Als Reaktion richtete Schleswig-Holstein eine Präventionsambulanz ein, Hamburg stellte einige Entlass-Manager:innen für Untersuchungshäftlinge ein. Zu wenig und ungeeignet, kritisiert die Opposition in beiden Ländern. Unter anderem weist der schleswig-holsteinische FDP-Landtagsabgeordnete Bernd Buchholz darauf hin, dass sich der Informationsaustausch zwischen den Behörden nicht verbessert habe.
Ibrahim A. wollte „beliebige Menschen töten“
Ibrahim A. war am Tattag nach Kiel gefahren, um seine Papiere in Ordnung zu bringen – das scheiterte daran, dass er keinen festen Wohnsitz hatte. Danach „reifte in ihm der Entschluss, beliebige Menschen zu töten“, sagte Lohmann. „Er fühlte sich seit Längerem ungerecht behandelt, nicht erst durch die erfolglosen Behördengänge, sondern bereits in Billwerder. Er trug sich seit einiger Zeit mit dem Gedanken, Menschen zu töten, um diese große Wut in ihm abzureagieren.“
Während der erneuten, ausführlichen Beschreibung der Tat saß A. ruhig da, schaute auf die Tischplatte und lauschte dem neben ihm sitzenden Dolmetscher. Teilweise verbarg er den Kopf zwischen den Händen. Er hatte die Taten zu Beginn des Prozesses abgestritten, später aber zugegeben. Eine Begründung oder eine Entschuldigung an die Adresse der Verletzten und Hinterbliebenen gab er während des ganzen Prozesses nicht ab.
Sein Anwalt Björn Seelbach hatte von Anfang an darauf hingewiesen, dass Ibrahim A. psychisch krank sei. Dafür sprechen die Berichte mehrerer Fachärzt:innen, die A. seit seiner Ankunft in Deutschland 2014 behandelt hatten. Auch in Billwerder war A. mehrfach auffällig geworden, unter anderem hörte er Stimmen, Klopfgeräusche und glaubte, er werde durch den Fernseher beobachtet.
Schwere seelische Störung diagnostiziert
Das spricht für psychotische Symptome, allerdings diagnostizierte niemand eine dauerhaft anhaltendende Psychose. Der Gutachter Arno Deister, der den Prozess begleitete, kam zu dem Schluss, dass A. an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidet. Als Gründe für diese Krankheit sieht Deister A.s Haft und mögliche Folter in Palästina sowie seine Flucht. Die PTBS stufte er zwar als schwere seelische Störung ein, hielt aber dennoch A. während der Tat für steuerungs- und schuldfähig. Dieser Haltung schloss sich das Gericht an.
Der Zusatz „besondere Schwere der Schuld“ bedeutet, dass A. nicht vorzeitig entlassen werden kann. A.s Verteidiger könnte das Urteil noch anfechten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch