Urteil gegen „Zwölf Stämme“: Ein trügerisches Idyll
Ihre Mitglieder verprügeln und demütigen ihre Kinder. Die Sekte hat Deutschland verlassen, sieben Kinder stehen weiter unter der Obhut des Jugendamtes.
Die Blaulicht-Aktion läutete den Anfang vom Ende der „Zwölf Stämme“ seit 1994 in Deutschland ein. In der Folge wurde immer mehr bekannt über den Erziehungsstil der Gemeinschaft, die sich vordergründig als eine Art urchristliche Landkommune präsentierte. Der Name „Zwölf Stämme“ steht für die biblischen „Zwölf Stämme Israels“, die in der Überlieferung im Alten Testament zum Volk Israel wurden.
Mit der Rute und anderen Gegenständen wurden die Kinder der Landkommune massiv geschlagen. „Nicht wöchentlich, sondern täglich“, erzählte der damals 22 Jahre alte Sektenaussteiger Christian Reip in einem Gespräch. Es habe ein „Klima der Angst und der totalen Überwachung“ geherrscht. Die „Zwölf Stämme“ hatten vom bayerischen Kultusministerium die Genehmigung erhalten, die Kinder selbst zu unterrichten, wodurch die Schüler kaum Gelegenheit hatten, das Areal der Sekte zu verlassen. Im Nachhinein wurde dies vielfach als fahrlässig kritisiert. Auch das Lehrpersonal prügelte, eine einstige nicht ausgebildete Lehrerin war deshalb vom Amtsgericht Nördlingen zu einer Strafe von zwei Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt worden.
Laut dem Verständnis der „Zwölf Stämme“ war und ist die körperliche Züchtigung, wie sie im Alten und Neuen Testament angepriesen wird, ein legitimes und auch pädagogisch sinnvolles Mittel der Erziehung. Auf der Webseite der nach Tschechien ausgewanderten Truppe steht ein Lehrvideo mit dem zynisch klingenden Titel: „Seitdem die Rute verboten wurde, ist die Hölle los.“ Reip berichtete von regelmäßigen Schlägen auf die offenen Hände und den nackten Po. Die Lehrkräfte umwickelten die Ruten mit Tesafilm – „damit sie mehr wehtun und nicht so schnell kaputtgehen“. Denn geprügelt wurde, bis die Rute kracht.
Hölle im Idyll
Von den damals 40 aus der Sekte entfernten Kindern und Jugendlichen ist ein Teil in der Zwischenzeit volljährig geworden und aus der Obhut des Jugendamtes entlassen. Sieben Kinder aber sind laut der Sprecherin Gabriele Hoidn weiterhin vom Landkreis in Pflegefamilien untergebracht und besuchen öffentliche Schulen. Diese sind 7 bis 15 Jahre alt. Ein 15-Jähriger lehnt von sich aus den Kontakt zu seinen leiblichen Eltern ab, die anderen sehen ihre Familien regelmäßigen in Absprache mit der Behörde.
Das einstige „Zwölf-Stämme“-Gut Klosterzimmern – ein früheres Zisterzienserinnen-Kloster mit Kirchlein und jeder Menge Nebengebäude – wirkte früher für Außenstehende und Besucher wie ein Idyll. Die Gemeinschaft lebte von der Landwirtschaft, betrieb aber auch Firmen für Bau und die Errichtung von Photovoltaik-Anlagen. Die Mitglieder kleideten sich wie Hippies und lebten weitgehend isoliert, nur das jährliche Hoffest galt in der weiteren Umgebung als Attraktion.
Ihren Hauptsitz haben die „Zwölf Stämme“ im US-Bundesstaat Tennessee, in den USA gibt es laut eigener Darstellung Dutzende Kommunen. Ableger existieren auch in Südamerika, Großbritannien oder Südfrankreich. Anfang vergangenen Jahres verließen die „Zwölf Stämme“ Deutschland komplett und zogen in einen kleinen tschechischen Ort, 50 Kilometer von Prag entfernt. Das Anwesen in Klosterzimmern haben sie an einen Bauern verkauft, der es nach letztem Informationsstand verpachten möchte.
In Tschechien, wo das Schulgesetz nicht so streng ist, haben die „Zwölf Stämme“ die Möglichkeit, Kinder privat zu beschulen, auch ist dort die Prügelstrafe in gewissem Umfang gesetzlich erlaubt. Auf Anrufe reagiert die Gruppe nicht. Ob sie wieder Kinder in ihrer Gemeinschaft haben, ist unbekannt. „Für uns sind sie verzogen, somit sind wir nicht mehr zuständig“, sagt die Landratsamts-Sprecherin in Donau-Ries.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten