Urteil gegen Türkei: Letzte Chance Straßburg

Erdoğan wird das Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs wohl ignorieren. Das hätte gravierende Folgen.

Osman Kavala steht an einem Mikrofon

Osman Kavala in einer Archivaufnahme von 2017 Foto: Türkisches Kulturzentrum via reuters

Erneut hat gestern der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg (EGMR) die Türkei verurteilt. Die massenhafte Inhaftierung von insgesamt 427 Richtern und Staatsanwälten im Anschluss an den Putschversuch im Sommer 2016 in Untersuchungshaft war rechtswidrig.

Für die türkische Regierung und insbesondere Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, gegen den sich der Putschversuch ja richtete, ist es erneut eine juristische Ohrfeige. Könnte man in Straßburg darüber befinden, würde wohl die gesamte justizielle Behandlung der über 50.000 Angeklagten im Anschluss an den Putsch als nicht rechtsstaatlich bewertet werden. Massenhaft, in Prozessen mit bis zu 500 Angeklagten, wurden Menschen, denen eine Nähe zur Gülen-Sekte unterstellt wurde, verurteilt, ohne dass überhaupt versucht wurde, ihnen eine individuelle Schuld nachzuweisen.

Dass die türkische Regierung das Urteil umsetzen wird und den Beschwerdeführern tatsächlich die verlangten 5.000 Euro Schadenersatz zahlen wird, ist höchst zweifelhaft. Erdoğan ist längst dazu übergegangen, Urteile des EGMR zu ignorieren. Dabei spielen vor allem zwei Fälle eine prominente Rolle: die des früheren Vorsitzenden der kurdisch-linken HDP, Selahattin Demirtas, der mittlerweile seit 5 Jahren in U-Haft sitzt, und der Fall des Kulturmäzens Osman Kavala, der seit gut 4 Jahren inhaftiert ist.

In beiden Fällen hatte der EGMR mehrfach die Freilassung gefordert, was von Erdoğan persönlich abgelehnt wurde. Als Ende Oktober zehn westliche Botschafter Erdoğan aufforderten, das EGMR-Urteil zu Kavala umzusetzen, kam es zu einem diplomatischen Eklat, bei dem Erdoğan sogar mit der Ausweisung der Botschafter drohte.

Selbst Russland machte Kompromisse

Schon zuvor hatte der Ministerausschuss des Europarates, dessen wichtigste Institution das Menschenrechtsgericht ist, der Türkei damit gedroht, falls Osman Kavala nicht bis zum 30. November freigelassen wird, ein Ausschlussverfahren aus dem Europarat einzuleiten. An diesem Freitag wird der Prozess gegen Osman Kavala fortgesetzt. Das ist die letzte Möglichkeit, Kavala aus der U-Haft zu entlassen, um noch einen Bruch mit dem Europarat zu vermeiden.

Jetzt muss sich zeigen, ob Präsident Erdoğan noch ein Interesse daran hat, mit europäischen Institutionen zusammenzuarbeiten, denn ein Rauswurf aus dem Europarat, den bislang selbst Russland und Aserbaidschan durch Kompromisse vermieden haben, würde auch für die Zusammenarbeit mit der EU nicht ohne Folgen bleiben.

Viele Menschen in der Türkei hoffen deshalb, dass Kavala freikommt – nicht nur wegen Osman Kavala selbst, sondern damit die Möglichkeit, sich an den Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg wenden zu können, erhalten bleibt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.