Urteil gegen Frag den Staat: Schuldspruch für die Pressefreiheit
Der Journalist Arne Semsrott hat Dokumente aus einem laufenden Verfahren veröffentlicht, das ist illegal. Sein Schuldspruch aber ist fast ein Freispruch.
Einen Freispruch, das fordern die meisten Verteidiger*innen für ihre Mandant*innen. In diesem Fall ist selbst der Schuldspruch nicht weit davon entfernt. Semsrott wurde am Freitagmittag vor dem Landgericht Berlin schuldig gesprochen, mit der Veröffentlichung von drei Gerichtsbeschlüssen in einem Ermittlungsverfahren gegen Klimaaktvist*innen der Letzten Generation gegen das Gesetz verstoßen zu haben. Doch das Strafmaß ist denkbar gering: Das Gericht hat lediglich eine Verwarnung ausgesprochen. Denn Semsrott muss die angesetzten 20 Tagessätze à 50 Euro – die Staatsanwaltschaft hatte 40 Tage gefordert – nur dann zahlen, wenn er sich innerhalb der kommenden zwölf Monate erneut strafbar macht. Geldstrafe auf Bewährung, sozusagen. Möglich wäre eine Strafe bis zu einem Jahr Haft gewesen.
„Wir werden nach Karlsruhe ziehen“, sagte Semsrott der taz nach Urteilsverkündung. Das heißt: Er will das Urteil anfechten. Das war von vornherein das Ziel: Semsrott hält den Paragrafen 353d Nr. 3 des Strafgesetzbuches für unzeitgemäß und verfassungswidrig. „Der Paragraf gehört abgeschafft.“ Der Paragraf verbietet es Journalist*innen, amtliche Dokumente aus laufenden Verfahren zu veröffentlichen. Das soll die Verfahrensbeteiligten schützen und die Funktionsfähigkeit geordneter Verfahren sicherstellen.
Glaubwürdigkeit und Dokumente
Veröffentlicht hatte Semsrott drei Beschlüsse aus dem Sommer 2023 im Zusammenhang mit Ermittlungen zur Letzten Generation. Das Gericht hatte darin Hausdurchsuchungen bei den Klimaaktivist*innen, die Abschaltung der Webseite und das Abhören des Pressetelefons der Gruppe im Rahmen staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen auf Bildung beziehungsweise Unterstützung einer kriminellen Vereinigung der Gruppe nach Paragraf 129 angeordnet. Eine Anklage gibt es bis heute nicht.
Die Ermittlungen hatten breite öffentliche Debatten ausgelöst. Kritik wurde unter anderem am Abhören des Pressetelefons geäußert. Über 100 Journalist*innen sollen davon betroffen sein. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte, Reporter ohne Grenzen und der Bayerische Journalisten-Verband haben mittlerweile im Namen von drei Journalist*innen Verfassungsbeschwerden gegen die Maßnahme eingereicht.
Semsrott erklärte am Freitag in seinem Schlusswort vor dem Landgericht Berlin, der Paragraf 353d verstoße gegen die im Grundgesetz verankerte Pressefreiheit. Journalist*innen stelle er vor praktische Probleme. Diese dürfen amtliche Dokumente wie Gerichtsbeschlüsse – so lange ein Verfahren noch läuft – zwar inhaltlich zusammenfassen, aber nicht wörtlich daraus zitieren. Das, so Semsrott, führe in der Berichterstattung immer wieder zu Ungenauigkeiten und dadurch zu schlechterem Journalismus – und letztlich zu einer schlechteren öffentlichen Debatte. Viele Journalist*innen berichteten dann lieber gar nicht, statt falsch zu berichten.
Semsrott vertritt die Ansicht, dass wörtliche Zitate aus Originaldokumenten gerade in Zeiten der Desinformation der Transparenz dienen und den „demokratischen Diskurs stärken“ können. Die Einsicht in Originaldokumente ermögliche es jedem, sich selbst ein Bild zu machen. Gerade in der aktuellen Zeit, in der es neben seriösen Medien auch viele Plattformen gebe, die Falschinformationen verbreiteten. Die Einsicht in Originaldokumente ermögliche es jedem, sich selbst ein Bild zu machen.
Urteil erwünscht
Richter Bo Meyer hielt die Sachlage für klar: Semsrott habe gesetzeswidrig gehandelt und das auch eingestanden. Er stimmte zwar zu, dass nach Urteilen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs „verschiedene Rechtsgüter miteinander abgewägt werden“ müssten – also hier die Funktionsfähigkeit der Gerichte mit der Pressefreiheit. Das sei aber nach deutschem Recht bereits möglich, auch ohne Änderung des Paragrafen 353d. Im Fall Semsrott sei Meyers Ansicht nach eine Einstellung des Verfahrens angemessen gewesen. Die jedoch lehnten Semsrott und sein Verteidiger ab. Daher sprach der Richter letztlich eine Verwarnung aus.
Arne Semsrott wertet das Urteil positiv: „Das Urteil ist ein Erfolg. Das Gericht hat anerkannt, dass es eine Abwägung geben muss“, sagte er der taz nach Urteilsverkündung am Freitagmittag. „Das ist ein kleiner Schritt nach vorne.“ Sein Anwalt Lukas Theune erklärte, das Gericht habe anerkannt, dass es ein grundsätzliches Veröffentlichungsverbot nicht geben dürfe. Allerdings habe es nicht geklärt, wann eine Veröffentlichung straffrei sei. Semsrott und sein Anwalt wollen daher weiterziehen: zunächst vor den Bundesgerichtshof, dann vors Bundesverfassungsgericht. „Wir wollen eine Grundsatzklärung“, sagte Semsrott der taz. „Wir müssen nach Karlsruhe.“
taz-Autorin Johanna Treblin recherchiert aktuell mit Frag-den-Staat-Journalistin Sabrina Winter zu Maßregelvollzug in Deutschland.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Klimakiller Landwirtschaft
Immer weniger Schweine und Rinder in Deutschland