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Unwort des Jahres 2013Der zynische „Sozialtourismus“

Mit dem Wort werde Stimmung gegen Zuwanderer gemacht, sagt die Jury. Eines ihrer Mitglieder, der Schriftsteller Ingo Schulze, wählte Alternativen.

Klar, sieht ja auch to-tal nach Urlaub aus hier: Ein mehrheitlich von rumänischen Zuwanderern bewohntes Haus in Duisburg. Bild: dpa

DARMSTADT afp/dpa | „Sozialtourismus“ ist das Unwort des Jahres 2013. In der Diskussion um Zuwanderung nach Deutschland sei von einigen Politikern und Medien mit diesem Ausdruck „gezielt Stimmung gegen unerwünschte Zuwanderer, insbesondere aus Osteuropa“, gemacht worden, begründete die Jury ihre Entscheidung am Dienstag in Darmstadt.

„Das Grundwort 'Tourismus' suggeriert in Verdrehung der offenkundigen Tatsachen eine dem Vergnügen und der Erholung dienende Reisetätigkeit“, erklärten die Sprachforscher. Das Wort „Sozial“ reduziere die damit gemeinte Zuwanderung auf das Ziel, vom deutschen Sozialsystem zu profitieren. Dies diskriminiere Menschen, „die aus purer Not in Deutschland eine bessere Zukunft suchen, und verschleiert ihr prinzipielles Recht hierzu“.

Das Unwort des Jahres wird seit 1991 von einer unabhängigen Jury aus Sprachwissenschaftlern ausgewählt. Die Aktion soll den Blick auf „sachlich unangemessene oder inhumane Formulierungen“ lenken. Zu den eingereichten Vorschlägen in diesem Jahr gehörten unter anderem „Supergrundrecht“ und „Armutszuwanderung“.

Der Jury gehörte in diesem Jahr auch der Schriftsteller Ingo Schulze an. Dieserwählte die Bezeichnungen „Arbeitnehmer/Arbeitgeber“ zu seinem persönlichen Unwort des Jahres. Von der grundlegenden Bedeutung von Arbeit als Leistung ausgehend verkehre das Wortpaar in dramatischer Weise die tatsächlichen Verhältnisse, erklärte der Autor. „Wer die Arbeit leistet, gibt, verkauft, wird zum Arbeitnehmer degradiert – wer sie nimmt, bezahlt und von ihr profitiert, zum Arbeitgeber erhoben“, begründete Schulze seine Wahl.

Neben der unabhängigen, sprachkritischen Jury mit ihrer Sprecherin in Darmstadt wählt davon getrennt die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) in Wiesbaden das „Wort des Jahres“. Für 2013 wurde im Dezember das Schlagwort „GroKo“ bekanntgegeben. Der Kurz-Begriff für die große Koalition in Berlin charakterisiere am besten das zu Ende gehende Wahljahr.

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18 Kommentare

 / 
  • AG
    ALI G

    @SHELDON

     

    Ich habe schon vor Jahren Oskar Lafontaine über die Verdrehung der Verhältnisse im Begriffspaar „Arbeitnehmer/Arbeitgeber“ reden hören - und auch er hatte damals schon recht.

  • D
    D.J.

    @Normalo,

     

    das Wort "Sozialtourismus" ist deshalb überaus fragwürdig, weil es moralisiert. Das sehr verständliche Unterfangen, dorthin zu ziehen, wo bessere Lebensmöglichkeiten (ja, natürlich auch Sozialleistungen) existieren, wird moralisch abgewertet. Es ist aber eine ganz andere Diskussion, inwiefern ein solches Handeln, soweit von Personen ohne Arbeitsmarktchancen unternommen, zu akzeptieren ist. Die Vermengung beider Aspekte (von Rechten wie von Linken mit unterschiedlichen Akzenten) ist zutiefst problematisch. Was den die Begriffe "Generalverdacht"/"Pauschalisierung" betrifft, so werden sie m.E. inflationär verwendet. Eine Pauschalisierung ("Bulgaren/Rumänen sind Armutszuwanderer") sehe ich nicht einmal bei der CSU. Oder haben Sie dahingehende Zitate?

    • @D.J.:

      Nach meinem Empfinden ist es nicht diese Vermengung, die den Ausschlag für die Unwort-Jury gegeben hat, sondern eben genau die Verwendung des Wortes, um einen Generalverdacht zu schüren. Dass man den nicht ausdrücklich ausspricht, ist klar. Aber genau das ist ja das, was die Jury anprangert: Dass die schlagwortartige Verwendung des Wortes nichts anderes als eine propagandistische Umgehung der ausdrücklichen Äußerung ist. Da widerspreche ich ihr auch gar nicht. Ich halte sie nur für "unzuständig" für diese Feststellung, denn sie gilt denen, die das Wort missbrauchen, nicht der Bedeutung des Wortes selbst. Verbannt man dieses aus dem Wortschatz, setzt man auch einer nicht missbräuchlichen Verwendung ein Ende.

       

      Und ob die von Ihnen angesprochene - unstreitige - Vermengung von Beschreibung und Moral für die Unwort-"Prämierung" ausreichen würde, wage ich zu bezweifeln. Dafür ist die Sprache viel zu voll von Begriffen, die eine Wertung vorwegnehmen, auch wenn sie nominell nur beschreiben sollen.

  • "Opfer-Abo" Reloaded. Wieder mal eine schlechte, politisch überlagerte Wahl: Es darf nichts benannt werden, was dem linken Klischee vom stets edlen Anspruchsteller widerspricht.

     

    Das "Unwort" bezeichnet das Umherreisen von Menschen, um am Ziel - dank entsprechender Sozialleistungen - nicht arbeiten zu müssen, aber trotzdem ein besseres Leben zu führen als in ihrer Heimat. Ich wüsste nicht, inwieweit das durch den Begriff "Tourismus" verdreht dargestellt wird.

     

    Man mag von jedem Verwender (also insbesondere der CSU) verlangen, dass er dieses abwertende Wort nicht pauschal auf jegliche Zuwanderung aus ärmeren Ländern münzt. Er sollte differenziert genug sein, die Existenz von arbeitswilligen Migranten zu akzeptieren und sie auch nicht unter Generalverdacht stellen.

     

    Aber das ist eine Frage der sachlich richtigen Verwendung und nicht der Bedeutung des Wortes. Es erklärt ja auch niemand "Mord" zum Unwort, nur weil es von Anhängern bestimmter religiöser Weltanschauungen gerne auf Abtreibungen verwendet wird.

     

    Denn dass es Vorgänge gibt, auf die dieses "Unwort" tatsächlich passt und auf die man es auch verwenden kann, ohne damit irgendwen zu diskriminieren, dürfte eigentlich unstreitig sein, wird aber aus politischen Erwägungen unterdrückt. Letztlich versucht nämlich die Unwort-Jury, durch ihr Urteil das Phänomen, das mit "Sozialtourismus" umschrieben wird, insgesamt aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen. Die Tatsache, dass es Migranten gibt, die NICHT unter diesen Begriff fallen, soll es gleich unmöglich machen, über Jene zu reden, die es DOCH tun.

    • @Normalo:

      In Rumänien und sonstwo sind die Gehälter 10 mal niedriger als hier. Deswegen kommen die her. Schau die aktuelle Folge ARD Monitor!

       

      Der Rest deines Kommentars ist leider die übliche rechte Schiene: einseitig plumpe Unterstellungen gegen die Einwanderer geschmettert. Ist ein deutscher Arbeitsloser etwa mehr wert als jemand anderes? Nein und genau das ist der springende Punkt!

      • @Ash:

        Auch wenn es vielleicht Manche gerne anders hätten - Sozialhilfe ist kein Ausdruck von persönlicher "Wertschätzung", sondern bemisst sich nach dem, was die Gesellschaft zur Unterhaltung Hilfsbedürftiger leisten kann und will. Und da muss jede Gesellschaft für sich entscheiden, wie weit sie dieses Angebot ausdehnt. Nach Ihrem Argument der menschlichen Gleichwertigkeit müssten wir ALLE einwanderungswilligen Menschen reinlassen und in unsere Sozialsysteme integrieren. Da das nicht zu stämmen wäre, müssen wir Grenzen ziehen - unabhängig davon, dass natürlich alle Menschen gleichviel "wert" sind.

         

        Davon abgesehen streitet - glaube ich - niemand ab, dass es jede Menge Menschen gibt, die ernsthaft hier arbeiten wollen. Und ich bin auch ganz selbstverständlich der Meinung, dass man DENEN mit der Bezeichnung als "Sozialtouristen" unrecht täte. Genauso halte ich Vorstöße für fehlerhaft, eine generelle Beschneidung der Zuwanderungsmöglichkeiten mit dem Hinweis auf Sozialtouristen zu begründen.

         

        All das schließt aber nicht aus, dass es Menschen GIBT, die sich nicht primär für einen ehrlichen Broterwerb interessieren, sondern in reichere Länder einwandern, nur um da Sozialleistungen zu empfangen. Solange das der Fall ist, halte ich es nicht für verwerflich, ein Wort wie "Sozialtourismus" im Köcher zu haben, um dieses Phänomen zu umschreiben - und sei es nur zur Abgrenzung vom positiven Bild der arbeitswilligen Migranten. Es kommt auf die missbräuchliche Verwendung des Wortes an. Das Wort selbst ist weder irreführend noch wirklich bösartig.

        • @Normalo:

          Es ist schon erstaunlich, dass manche Menschen immer wieder die selben Argumente bringen.

           

          "Wir können nicht alle reinlassen..."

           

          Wir müssen auch nicht alle reinlassen. Weil es für viele Menschen kein Ziel ist, in einem fremden Land in Abhängigkeit zu leben. Das sind Hirngespinste!

           

          Die Argumentation, dass die Freizügigkeit Massen von geringqualifizierten Menschen nach Deutschland holen würde, ist so alt wie die Idee der Freizügigkeit selbst. Erst waren es die Italiener, dann die Portugiesen, vor kurzem wurde vor der Polenschwemme gewarnt und nun eben vor SO-Europa.

           

          Fällt Ihnen da was auf?

          • @Dhimitry:

            Es bleibt trotzdem dabei, dass wir nicht Alle reinlassen können und auch Viele de facto nicht reinlassen - völlig unabhängig davon, wieviele jetzt tatsächlich rein wollen. Das Fass, aus dem wir unserer Sozialleistungen schöpfen HAT einen Boden. Und damit man nicht eines Tages diesen Boden erreicht und Anspruchsteller enttäuschen muss, gilt es, von vornherein zu regeln, wie weit man mit der Freigiebigkeit theoretisch gehen will. Denn Regelungen sind für den Fall da, dass sie gebraucht werden. Braucht man sie nicht, spielen sie keine Rolle.

             

            Ob das mit der freiwilligen Abhängigkeit nur ein Hirngespinst ist, können weder Sie noch ich abschließend beurteilen. Fakt ist: Wenn es sowas gibt, müssen wir uns darüber klar sein, wie wir damit umgehen wollen. Dass es sowas geben KANN, steht außer Frage.

  • FN
    Frauke Niederstein

    Solange die taz das Wort Herdprämie (Unwort des Jahres 2007) weiter benutzt, sollte sie keine Artikel über zynische Unwörter publizieren...

  • Das Schlimme ist, dass dieses Wort auch in der EU verwendet wird.

     

    Wir müssen mehr von internationaler Solidarität, Patriarchiat, faschistoidem Verhalten und umfaitteilung, Menschenwürde, Ewiggestrigkeit, Erbschld und Gegengewalt reden, damit diese dumpfen Leute keine Chance haben!

    • D
      Denkender
      @Claudia Cometh:

      Welche Leute sind "dumpf"? Die die sehen, was hier passiert in Europa? Die sie kritisieren, dass Menschen aus SO Europa gen Westen ziehen, entweder um ihren Lebensstandard mit ALG 2 zu verbessern oder mit ihren guten Qualifikationen hier zu arbeiten und ihr eigenes Land im Sinne von verlorenen Arbeitskräften auszudünnen? Ich finde, dass Sie typisch deutsch denken, so wie Sie es Ihrerseits Kritikern an der EU Politik vorwerfen.

  • S
    Sheldon

    „Arbeitnehmer/Arbeitgeber“ ist tatsächlich eine unglaubliche Verdrehung der Verhältnisse. Danke an Ingo Schulze dass er das aufgezeigt hat.

    • 8G
      849 (Profil gelöscht)
      @Sheldon:

      Das Wortpaar gibt es aber schon seit Jahrzehnten und Ingo Schulze ist weiß Gott nicht der erste, dem das aufgefallen ist.

      • N
        noeffbaux
        @849 (Profil gelöscht):

        Theodor Adorno doch auch, oder?

  • A
    achim

    da sieht man, welche kräfte diese wettbewerbe mißbrauchen und damit politik machen

    • @achim:

      In DE sind die Gehälter zehn Mal so hoch wie in Rumänien. Deswegen kommen die her. Schau die aktuelle Folge ARD Monitor! Es handelt sich definitiv um Sprachmissbrauch. Und da kannst du weiter deine rechten Parolen durch den Raum plärren, das ändert an den Fakten überhaupt nichts.

  • B
    Balduin

    Die Refaschisierung Deutschlands kommt auch in Nazi-Rhetorik wie eben diesem Begriff zum Ausdruck.

    • 6G
      688 (Profil gelöscht)
      @Balduin:

      Wieso Re-...? Es / der geistige Stillstand seit der "Vertreibung aus dem Paradies" hat bisher doch nicht aufgehört unwahrheitlich zu funktionieren - gleichermaßen unverarbeitete und somit leicht manipulierbare Bewußtseinsschwäche in Angst, Gewalt und "Individualbewußtsein" auf stets zeitgeistlich-systemrationaler Sündenbocksuche!