Unter dem Deckmantel Soziale Arbeit: Ideologie macht Schule
Soziale Arbeit? Gruppen wie die „Aktion Lebensrecht für Alle“ verbreiten antifeministische und christlich-fundamentalistische Inhalte unter Teenagern.
Ihre Botschaft an die 14 vor allem jungen Zuhörenden: Abtreibung, das sei eine „vorgeburtliche Kindstötung“. Linder spricht von Entmenschlichung, von Gewalt, von Brutalität. Wo die Medizin sagt, dass der Fötus bis zur 19. Schwangerschaftswoche noch keine Schmerzen empfinden kann, formuliert Linder: „Das Kind wird entmenschlicht und zerquetscht.“
Die Inhalte sind wissenschaftlich falsch
Hinter Linder und ALfA steckt ein bundesweites christlich-fundamentalistisches Netzwerk. Das Ziel ist es, Jugendliche für ihre Ideologie zu gewinnen. Mit Infoveranstaltungen wie dieser, dem Verteilen von Goodie-Bags, „Pro-Life“-Touren durch Deutschland, Argumentationsworkshops oder Mitmachaktionen sprechen sie vor allem Jugendliche an, die Orientierung suchen.
Die Inhalte, die die selbst ernannten Lebensschützer:innen verbreiten, sind zwar oft wissenschaftlich falsch, werden von der Gruppe jedoch als neutrale Informationen verkauft. So beruft sich Linder in ihrem Vortrag an keiner Stelle auf Gott oder die Schöpfung. Für junge Menschen, die die ideologischen Hintergründe nicht kennen, ist der fundamentalistische Grundtenor ihres Vortrags schwer zu erkennen.
Warum beschäftigen wir uns in einem Dossier mit Antifeminismus? Schon in vielen Liedern wird besungen: „Know your enemy“. Oft ist Antifeminismus subtil. Wie wir ihn entlarven können, wird klar, wenn wir uns mit ihm auseinandersetzen: Welche Formen nimmt er an? Wer sind die Akteur*innen? Und wie können wir ihm begegnen? Alle Dossiertexte gibt es im Online-Schwerpunkt zum feministischen Kampftag.
„Diese Aktionen sind bewusst erlebnisorientiert“, sagt Len Schmid. Schmid ist Sozialarbeiter*in und Sexualwissenschaftler*in und beschäftigt sich als Projektreferent*in der Fachstelle „mobirex – Monitoring, Bildung, Information“ in Baden-Württemberg schwerpunktmäßig mit organisiertem Antifeminismus und den Schnittstellen zur (extremen) Rechten.
Soziale Arbeit bei Jugendlichen durch antifeministische Akteure ist eines der Kernthemen Schmids. Der Fokus liege hier auf der Anti-Choice-Arbeit und der Informationsverbreitung gegen reproduktive und sexuelle Selbstbestimmung. Bei der christlich-fundamentalistischen Sozialarbeit identifiziert Schmid drei Säulen: Beratungsstellen, Jugendarbeit und Sexualerziehung.
Mitmachaktionen und fundamentalistische Literatur
Die Beratungsstellen konzentrieren sich vor allem auf das Thema Schwangerschaftskonfliktberatung. Dabei geht es aber nicht etwa um eine psychologische Beratung, wie sie Pro Familia beispielsweise leistet, sondern vielmehr darum, den Aufsuchenden zu vermitteln, dass Schwangerschaftsabbruch nicht nur ethisch falsch, sondern auch traumatisierend für alle Beteiligten sei. Das vermeintliche Post-Abortion-Syndrom, wie es die Abtreibungsgegner*innen nennen, ist jedoch medizinisch nicht nachweisbar.
Bei der zweiten Säule, der Jugendarbeit, gibt es vor allem Mitmachaktionen wie die Pro-Life-Tour. Die dritte Säule, die Sexualerziehung, geht mit den anderen beiden Hand in Hand. Anti-Choice-Aktivist*innen sprechen auch gezielt Schulen an, um dort Workshops zu geben. Mithilfe christlich-fundamentalistischer Literatur, wozu auch das Buch „Schwanger mit 16“ gehört, das die ALfA-Bundesvorsitzende Cornelia Kaminski geschrieben hat, werden Moralvorstellungen wider die sexuelle Selbstbestimmung vermittelt.
In dem Buch können Schüler*innen üben „pro choice-Argumente“ zu entkräftigen.
„Es geht sehr stark darum, eine christliche Sexualmoral zu verbreiten“, sagt Len Schmid. So werden antifeministische Thesen durch vermeintliche Aufklärung unter Jugendliche gebracht, die ihren Zugang zur Sexualität gerade erst ausbilden.
Ein prominenter Redner, der von ALfA an Schulen vermittelt wird, ist der Arzt Paul Cullen, der auch im Bundesverband Lebensrecht tätig ist. Cullen äußert sich nicht nur immer wieder antifeministisch, sondern hat im Kontext der Pandemie auch Verschwörungserzählungen verbreitet und 2016 an einem antisemitischen Manifest mitgewirkt.
In krisenhaften Zeiten bieten die Gruppen Halt
Immer wieder gibt es auch Verbindungen der Pro-Life-Bewegungen zu rechten bis rechtsextremen Akteuren, die sich antifeministisch und queerfeindlich, aber auch rassistisch äußern und entsprechend agieren. So ist es keine Seltenheit, dass AfD-Mitglieder wie Beatrix von Storch an „Märschen für das Leben“ teilnehmen. Auch wird positiv Bezug auf Staaten wie Ungarn oder Polen genommen, in denen immer mehr antidemokratische und antifeministische Gesetze verabschiedet werden.
Geht die Strategie der Vereinnahmung von sozialer Arbeit auf? „Für Jugendliche sind das attraktive Angebote“, sagt Expert*in Schmid. „In krisenhaften Zeiten bieten diese Gruppen etwas, woran sie sich festhalten können.“ Vor allem die niedrigschwellige Ansprache und der erlebnisorientierte Charakter der Veranstaltungen fördern das. Digitale Angebote wie die Veranstaltung der JfdL vereinfachen den Zugang noch. Allerdings gibt es keine Zahlen, die belegen können, wie erfolgreich die Rekrutierung Jugendlicher durch christlich-fundamentalistische Gruppen tatsächlich ist.
Um die Lücke zu schließen, die die Fundamentalist*innen bedienen, brauche es eine Stärkung der Kinder- und Jugendarbeit, die einem emanzipatorischen Ansatz folgt und zur Demokratieförderung beiträgt, sagt Len Schmid. Und: Aufklärungsarbeit, um die Ideologie hinter den Angeboten sichtbar zu machen. Bei Lehrkräften und Pädagog*innen ebenso wie bei Jugendlichen.
Bislang funktioniert solche Aufklärung nur wenig. So ist auf der vom baden-württembergischen Kultusministerium geförderten Bildungsmesse didacta in diesem Jahr auch ALfA mit einem Infostand vertreten. Antifeministische, fundamentalistische Inhalte stehen auf diese Weise neben Biologiebüchern und Englischheften – als wären sie wissenschaftlicher Standard.
Anm. d. R.: In einer früheren Version wurde in diesem Artikel ein Buchzitat falsch zugeordnet. Außerdem hieß es zuvor fälschlicherweise, dass Linder noch Bundesvorsitzende der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. sei. Wir haben die entsprechende Stelle geändert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“