Unruhen in Kasachstan: Mär vom Aufstand der Islamisten

Kasachstans Regierung macht im Ausland trainierte Islamisten für den Gewaltausbruch im Land verantwortlich. Experten bezweifeln das.

Protestierende erleuchte ihre Smartphones vor einem beleuchteten Gebäude

Wut wegen sozialer Ungerechtigkeit oder islamistische Umtriebe? Demonstranten in Almaty am 4. Januar Foto: Vladimir Tretyakov/ap

Berlin taz | „Die Ereignisse waren ein lokaler Protest“, sagt Edward Schatz, „zur gleichen Zeit aber auch ein Volksaufstand, eine Öffnung für Opportunisten, eine Abrechnung innerhalb der politischen Elite, ein Muskelspiel Russlands und viele andere Dinge mehr.“ So beschreibt der Politologe von der Universität Toronto, einer der führenden westlichen Mittelasienforscher, die schweren Unruhen in Kasachstan in der ersten Januarhälfte.

Tausende Protestierende besetzten in dem riesigen, aber nur von 19 Millionen Menschen bewohnten Land vorübergehend den Flughafen von Almaty, der größten Stadt des Landes, brannten das Bürgermeisteramt, den Sitz der Staatsanwaltschaft und das Polizeihauptquartier nieder, plünderten Banken und Waffengeschäfte und kaperten Militärfahrzeuge.

Präsident Kassim-Schomart Tokajew sah sich genötigt, Truppen des 2002 gegründeten, russisch dominierten regionalen Militärbündnisses OVKS zur Hilfe zu rufen. Einsätze unter ähnlichen Umständen 2010 im benachbarten Kirgistan und nach dem Krieg um Bergkarabach 2021 an der Grenze zwischen Aserbaidschan und Armenien hatte das Bündnis noch ausgeschlagen, sodass viele im Westen schon ein zweites Ukraine-Szenarium sahen. Doch nun scheinen die Truppen bereits wieder abzuziehen.

Wichtigstes politisches Ergebnis der Unruhen war die Entmachtung des 2019 zurückgetretenen, aber immer noch aus dem Hintergrund mitregierenden Ex-Staatspräsidenten Nursultan Nasarbajew. In Kasachstan sprach man deshalb von einem Macht-„Tandem“ mit seinem Nachfolger Tokajew.

Der 68-jährige Präsident Tokajew, von Nasarbajew persönlich ausgewählt und vom Volk in einer Wahl bestätigt, drängt nun auch die Mitglieder von Nasarbajews Clan aus ihren Schlüsselpositionen in den Sicherheitskräften und der dank gewaltiger Öl- und Gasvorkommen reichen Wirtschaft. Während 120 Menschen die Hälfte dieses Reichtums kontrollieren, muss die Durch­schnitts­bür­ge­r:in mit umgerechnet 500 US-Dollar im Monat auskommen.

Angriff der „ausländischen Terrorgangs“?

Die Financial Times nennt Kasachstan, das lange als das liberalste Land in Mittelasien galt, „eines der stärksten Beispiele einer modernen Kleptokratie“. Ainur Kurmanow, Chef der kleinen Sozialistischen Bewegung Kasachstans, spricht von der Herrschaft einer „kapitalistischen Oligarchie mit asiatischem Gesicht“.

Die kasachische Regierung machte dschihadistische Umtriebe für die Unruhen verantwortlich. In einer Fernsehansprache gleich nach dem Ausbruch der Unruhen behauptete Tokajew, das Land werde von „internationalen Terrorgangs angegriffen, die im Ausland trainiert“ worden seien. Einige von ihnen, so der ehemalige Uno-Diplomat, hätten „nichtkasachische Sprachen“ gesprochen, „säkulare Bürger“ getötet und „Frauen vergewaltigt“.

Viele internationale Medien griffen das auf. Kasachische Medien machten daraus sogar „arabisch sprechende Terroristen“. Zumindest das stellte sich bald als Farce heraus. Einer der im Fernsehen vorgeführten angeblichen Söldner erwies sich als der stadtbekannte kirgisische Jazzmusiker Vikram Rusachunow.

Religiöse Slogans fehlen

Nicht eine einzige Kasachstan-Expert:in sieht Islamisten als treibenden Faktor in den Vorgängen. Islamismusexperte Serik Beisembajew, der in der nach dem Expräsidenten benannten Hauptstadt Nursultan (früher und wohl bald wieder Astana) arbeitet, sagte, in den Videos von den Protesten, die er gesehen habe, „gab es keine religiösen Slogans oder andere Symbole mit Bezug auf den IS oder andere extremistische Gruppen“.

Auch Nargis Kassenova, die aus Kasachstan stammende Leiterin des Programms für Mittelasien-Studien in Harvard, sagte der taz: „Ich habe bisher keine Beweise für eine externe terroristische Bedrohung gesehen.“ Wenn, dann hätten sich einheimische Islamisten unter die Proteste gemischt, aber ohne sich als solche zu erkennen zu geben.

Kasachstans bewaffnete Islamistenszene war immer marginal. Einige sollen vor 2001 in Afghanistan bei den Taliban mitgekämpft haben. Laut Tokajew-Berater Erlan Karin, bis vor kurzem Chef eines Polit-Thinktanks in Nursultan, sei ihre Zahl noch niedriger gewesen als die der Kämpfer aus anderen mittelasiatischen Ländern wie Tadschikistan oder Usbekistan.

Später seien die meisten in den IS-Staat nach Irak und Syrien abgewandert. 2015 wurde ihre Zahl mit 250 angegeben, aber dabei wurden wohl sogar Kinder mitgezählt. Die posierten für Videos in Tarnuniformen, mit Waffen und im Islamunterricht.

Nach der Niederlage des IS dort fielen viele Kasachen in die Hände kurdischer Kämpfer. Die kasachische Regierung holte sie 2019 in der großangelegten Operation Schusan heim, mit anschließender „Rehabilitierung“. Laut Karin, der daran mitwirkte, gibt es seither „keine solche aktive, große Gruppe mehr, weder in Syrien noch Afghanistan.“

Oligarch mit islamistischen Wünschen

In Kasachstan selbst verübte 2011 eine Gruppe namens Dschund al-Khilafa (Heer des Kalifats) kleine Sprengstoffanschläge und lieferte sich ein paar Schießereien mit der Polizei. Seither tauchte sie aber in keiner der Übersichten seriöser Ter­ro­ris­mus­be­ob­ach­te­r:in­nen mehr auf und steht auch nicht auf der UN-Sanktionsliste.

Einen Überfall auf einen Waffenladen im Juni 2016 schrieben Kasachstans Sicherheitsbehörden Anhängern „radikaler, nichttraditioneller religiöser Bewegungen“ zu. Der Begriff wird zumeist für Neo-Salafisten oder die weltweit und auch in Kasachstan aktive islamistische Splittergruppe Hizb al-Tahrir (Befreiungspartei) verwendet, die in der Regel gewaltlos agieren.

Laut Kassenova kommen islamistische Einflüsse auch aus den Golfstaaten, wohin Kasachstans Eliten gute Geschäftsbeziehungen unterhalten. Erica Marat, Mittelasienexpertin an der National Defense University in Washington, wies jüngst in einem ARD-Interview darauf hin, dass sich in Mittelasien aber „radikale Religionsauffassungen ausbreiten, mehr Leute sich islamistischen Gruppen anschließen und sich mehr religiöse Einflüsse in der Politik wünschen“.

In Kasachstan gehört zu dieser Szene der Oligarch Kairat Satubaldyuly, laut Dinisa Duvanova von der Lehigh-Universität in den USA, „ein bekannter Wahhabisten-Sympathisant“. 2019 wollte der Nasarbajew-Neffe eine islamische „Bewegung“ als Vorstufe zur Parteigründung registrieren, die er schon fast über ein Jahrzehnt als kulturelle Organisation gefördert hatte. Ihr Name, Ak Orda, ist auch der des Präsidentenpalastes – ein wenig subtiles Zeichen dafür, dass Satubaldyuly mit offizieller Duldung handelte, obwohl religiöse Parteien in Kasachstan verboten sind.

Soziale Proteste zu Beginn

Die Nasarbajew-Familie „wollte auch diesen Bereich kontrollieren, merkte dann aber wohl, dass sie mit dem Feuer spielt“, so Kassenova. Die Bewegung verschwand ohne viel Aufhebens schnell wieder aus der Öffentlichkeit. Über Satubaldyulys Bruder Samat Abisch, bis zu seiner Entlassung durch Tokajew am 8. Januar Vizegeheimdienstchef, verfügt dieser Teil des Nasarbajew-Clans auch über gute Verbindungen in die Sicherheitsbehörden. Deshalb gab es in der Vergangenheit Gerüchte, dass es dort ebenfalls eine islamistische Gruppierung gegeben haben soll.

In der Ex­per­t:in­nen­sze­ne setzt sich derzeit die Auffassung durch, dass Tokajew die OVKS-Truppen rief, um einen Putschversuch dieser Kreise niederzuschlagen, und da er sich der Unterstützung seiner eigenen bewaffneten Kräfte nicht mehr sicher sein konnte. Der Nasarbajew-Clan habe zuvor die Proteste mithilfe assoziierter krimineller Netzwerke und abtrünniger Sicherheitskräfte gekapert.

Was die Gewaltausbrüche angeht, sieht Kassenova „Provokateure“ am Werk, aber auch „genuine Wut“. Darin, so der kasachische Zivilgesellschaftsaktivist Jewgeni Schowtis, habe sich der Hass „auf die Polizei und die anderen Sicherheitsagenturen“ gerichtet, „die aus Sicht der Demonstrierenden nur die Interessen der Eliten an der Macht verteidigen“. Nasarbajew habe alle Kanäle im politischen System abgeschafft, durch die solche Forderungen hätten artikuliert werden können.

Die Gewalt und der Machtkampf unter Kasachstans Eliten haben laut Kurmanow in den Hintergrund gedrängt, dass dezidiert „soziale Proteste“ am Anfang der Unruhen standen. Tokajew will nun die Sozialausgaben erhöhen. Er deutete an, dass auch ungesetzlich erworbene Gelder des Nasarbajew-Clans in einen Sonderfonds fließen sollen. Kassenova glaubt, Tokajew erkenne, wie dringend die sozialen Probleme seien: „explosiv bis zerstörerisch – wir haben es gerade miterlebt“.

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