Zentralasien-Experte über Kasachstan: „Nasarbajew-Ära endgültig zu Ende“

Durch die Proteste hat Kasachstans Präsident Tokajew seine Macht konsolidiert, sagt Temur Umarow. Die Zukunft des Landes sieht er als „Belarus-Kopie“.

Schlammverschmiertes Relief des Ex-Präsdienten

Während der Proteste mit Schlamm beschmiert: Kunstwerk, das Ex-Präsident Nursultan Nasarbajew zeigt Foto: Pawel Mikheyev/reuters

taz: Herr Umarow, warum sind die Proteste der kasachischen Führung so entglitten, dass diese um Hilfe aus Moskau gebeten hat?

Temur Umarow: Dass die Demonstrationen, die im Westen des Landes mit sozioökonomischen Forderungen begannen, so ausarten, konnte niemand vorhersehen. Das hat alle, in Kasachstan und sonst auf der Welt, überrascht. Allerdings hat das autoritäre Regime in Kasachstan, wie das autoritären Regimes letztlich eigen ist, systematisch Fehler begangen. Die Verbindung zum Volk war nicht vorhanden. Die Herrscher hatten keine Kanäle, um die Stimmungen in der Gesellschaft zu erfassen. Die Radikalisierung auf den Straßen Kasachstans war präzedenzlos, und doch haben sich hier viele Elemente miteinander vermischt: die soziale Ungerechtigkeit, die Unzufriedenheit mit der korrupten Elite, der Wille zu politischer Beteiligung. Und plötzlich gesellten sich auch Schläger mit kriminellem Hintergrund hinzu. Es eskalierte.

Sehen wir hier einen Kampf der Clans?

Innerhalb der kasachischen Elite hat es schon immer Konflikte gegeben. Dem jetzigen Präsidenten Kassym-Schomart Tokajew war stets bewusst, dass er nicht von allen Gefolgsleuten Nursultan Nasarbajews als dessen Nachfolger getragen wird. Er wusste um den Druck, sprach auch öfter von Sabotage seiner Entscheidungen. Die Proteste kamen ihm geradewegs zupass. Er hat in ihnen eine Chance für sich gesehen und sie sofort für seine Zwecke genutzt: um seine Macht zu konsolidieren und um sich Nasarbajews und dessen mächtiger Umgebung zu entledigen. Es hat in diesen Tagen der Gewalt eine wirkliche Übergabe der Macht stattgefunden.

Jahrgang 1996, ist in Samarkand (Usbekistan) aufgewachsen. Er arbeitet am Moskauer Carnegie-Zent-rum zur Politik Zentralasiens und den Beziehungen Chinas zu postsowjeti-schen Ländern.

Hat sich Tokajew von Nasarbajew freigeschwommen?

Eindeutig ja. Er hat mit seiner Entscheidung, die Nasarbajew-treue Regierung zu entlassen, mit dem Schießbefehl, dem Hilferuf nach dem von Russland angeführten Militärbündnis ODKB sowie der Festnahme des Vize-Geheimdienstchefs Karim Massimow, eines Beraters von Nasarbajew, gezeigt, dass er nun der wirkliche Anführer Kasachstans ist. Ob wirklich Massimow hinter den gewaltsamen Aktionen steckt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Tokajew will aber alle glauben lassen, dass das Ganze sorgfältig geplant war. Eine Anklage wurde Massimow noch nicht präsentiert. Vielleicht will Tokajew seinem Vorgänger auch nicht allzu sehr auf die Füße treten. Nasarbajew aber sind jetzt alle Hebel der Macht genommen.

Wo ist der Mann, der sich „Führer der Nation“ nennt?

Nasarbajew hat sich seit Ende Dezember nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt. Man kann nicht einmal sagen, ob er noch im Land ist oder sich doch, wie einige Beobachter behaupten, in China oder in Dubai aufhält. Nasarbajews Ära ist endgültig zu Ende. Tokajews Ära aber hat noch nicht angefangen. In der Gesellschaft wird er weiterhin mit Nasarbajew assoziiert. Tokajews Popularität ist nicht groß im Volk.

Sie dürfte kaum größer werden, jetzt, wo er Moskau zu Hilfe gerufen hat.

Tokajew hat das Land tatsächlich noch abhängiger von Russland gemacht. Er tut gerade viel dafür, um das Narrativ, dass Kasachstan von „Banden von außen“ angegriffen worden sei, in der Gesellschaft zu etablieren. Und gegen internationalen Terrorismus komme Kasachstan allein nicht an, lautet seine Lesart. Tokajew hatte offenbar wirklich Angst, dass die Sicherheitsleute nicht hinter ihm stehen könnten, dass es zu Ende gehen könnte mit ihm. Indem er russische Hilfe angefordert hat, zeigte er auch nach innen, dass er nicht machtlos ist.

Wohin wird er Kasachstan führen?

Die Zukunft Kasachstans ist als eine Mischung der Gegenwart von Russland und Belarus zu sehen. Kasachstan dürfte eine Art Kopie von Belarus werden. Es wird Hunderte von Anklagen wegen Terrorismus geben, und das ist gefährlich. Diese Anklagen werden sich gegen alle richten: die Demonstranten, die Aktivisten, die Journalisten, die Menschenrechtler. Die kasachische Opposition hatte es schon immer schwer im Land, jetzt wird sie wohl endgültig ausgeschaltet werden.

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