Universitätsstadt Ilmenau in Thüringen: Raus aus der Blase
Das kleine thüringische Ilmenau schmückt sich mit dem Titel Universitätsstadt. Doch Campus und Stadt sind zwei Welten.
Es ist der „Tag der Nachbarn“, Ort des Geschehens ist eine Wohnanlage in Ilmenau. Rund 26.000 Einwohner zählt die am Rande des Thüringer Waldes gelegene Kleinstadt, die sich mit dem Zusatz Universitätsstadt schmückt. Die Technische Universität bietet diverse Bachelor-Master- und Diplomstudiengänge an, das Spektrum reicht von Informatik, Medienkommunikation bis zu Wirtschaftswissenschaften, der Schwerpunkt liegt auf Ingenieurwissenschaften.
Laut einer Studie des unternehmernahen Instituts der deutschen Wirtschaft gehört sie zu den innovativsten Universitäten bundesweit. Unter Studierenden gilt sie wegen der familiären Atmosphäre als gute Adresse und weil man in der Forschung viel Freiheiten hat. Ein Drittel der rund 5.000 Studierenden kommt aus dem Ausland, rund 100 Nationen sind vertreten. Aber wenn die Stadt llmenau auf ihrer Homepage schreibt, durch die Universität sei das Stadtbild geprägt von den jungen Menschen, entspricht das nicht ganz den Tatsachen.
Der am Stadtrand gelegene Campus ist ein Kosmos für sich. Viele der ausländischen Studierenden können kein Deutsch, müssen es wegen englischsprachigen Studienangebote auch nicht. Auf dem Campus ist für alles gesorgt, es gibt Wohnheime, eine Mensa, diverse Clubs und eine Einkaufsmöglichkeit. Begegnungen mit der Stadtbevölkerung fänden kaum statt – viele sagen das. Die Bahnschienen sind die Trennlinie. Nur in einem nahe der Altstadt gelegenen Supermarkt mit einem großen internationalen Lebensmittelangebot kreuzen sich die Wege, wirkliche Begegnungen sind das nicht.
Dieser Text ist Teil unserer Berichterstattung zu den Wahlen 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Die taz zeigt, was hier in diesem Jahr auf dem Spiel steht.
„Jeder lebt in seiner Blase“, sagt Mira Rochyadi-Reetz. Mit Veranstaltungen wie der in der Seniorenwohnlage versucht sie das zusammen mit einer Gruppe von Gleichgesinnten aus der Uni zu ändern. Seit 2012 lebt in Rochyadi-Reetz in Ilmenau. In der TU ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Medienforschung und politische Kommunikation, Sprecherin eines indonesischen Kulturkreises, Referentin im Studierendenrat für Internationales. Im Januar, als deutschlandweit Millionen gegen die Remigrations-Fantasien von AfD und Co auf die Straße gingen, waren Rochyadi-Reetz und ihre Mitstreiterinnen der Motor für eine Demonstration in Ilmenau: Für Demokratie, gegen Rechtsextremismus – „Wir sind Ilmenau.“
Kürzlich haben in Thüringen Kommunalwahlen stattgefunden. Mit einem Ergebnis von rund 27 Prozent hat die AfD in den Kreistagen deutlich zugelegt, für die Landtagswahlen am 1. September lässt das Schlimmes befürchten. Auch im Stadtrat Ilmenau ist die AfD zweitstärkste Kraft, immerhin aber hat es Daniel Schultheiß (parteilos) mit 56,4 Prozent geschafft, sich als Oberbürgermeister zu halten.
Bunt und divers
lm Vergleich zu manchen anderen thüringischen Kleinstädten ist Ilmenau bunt und divers. In der Fußgängerzone der schön sanierten Altstadt gibt es viele kleine Läden und Einkehrmöglichkeiten. Es gibt Döner- und Asia-Imbisse, Sushi, Pizza und Pasta, auch zwei Bioläden. Menschen, die so aussehen, als hätten sie eine Migrationsgeschichte und auch Frauen mit Kopftuch sieht man auf der Straße selten. Die Vielfalt der Uni spiegelt sich im Alltag von Ilmenau nicht wider. Und nach Geschäftsschluss ist die Altstadt wie ausgestorben.
Auf dem Campus gebe es doch alles, sagt Fabian, Masterstudent Maschinenbau. Der 33-Jährige gehört dem Kollektiv „Wunderrad“ an, das auf dem Unigelände für die Studierenden immer donnerstags Fahrräder repariert. Die Nachfrage ist groß. „Wenn, dann fahren wir lieber nach Erfurt als nach Ilmenau“, sagt Fabian. Oder in den Wald mit den Rädern, ergänzt Piotr, 23, Studienfach Ingenieurinformatik. Auf dem Kickelhahn, Ilmenaus 861 Meter hohem Hausberg, gibt es gute Mountainbike-Trails. Allenfalls zum Eisessen gehe sie mal in die Stadt, sagt eine 28-jährige Chinesin, die Informatik studiert.
„Beide Seiten müssen raus aus ihrer Blase,“ findet Mira Rochyadi-Reetz. Mit ihrem Mann, einem gebürtigen Deutschen, und dem 11-jährigen Sohn wohnt die Hochschulmitarbeiterin in Ilmenau in einer Plattenbausiedlung. Ihr Engagement für das Zusammenführen der Gesellschaft begründet sie mit Schlüsselerlebnissen: Ihrem damals dreijährigen Sohn sei auf dem Spielplatz von einem Kind das Spielzeug weggenommen worden. Musst du nicht zurückgeben, sind doch Ausländer, habe dessen Mutter gesagt. Sie habe sich damals nicht getraut zu protestieren, sagt Rochyadi-Reetz.
Der zweite Vorfall ist noch nicht so lange her. In der Grundschule habe ein Kind zu ihrem Sohn und einem Kind aus Pakistan gesagt: Mein Opa hätte euch längst vergast. Diesmal habe sie gleich reagiert und die Schulleitung informiert, die ihrerseits sehr gut reagiert habe, sagt Rochyadi-Reetz. Es habe ein Elterngespräch gegeben und eine Informationsveranstaltung über Rechtsextremismus in sozialen Medien.
Eine interkulturelle Woche
An einem Samstag, in der Altstadt von Ilmenau: Sechs Studentinnen und zwei Studenten haben einen Stuhlkreis gebildet. Sie kommen aus Iran, Mexiko, Afghanistan, Indien, Myanmar, Kolumbien, studieren Biomedizintechnik, Businessmanagement, Computersience. Mitten drin Mira. Es ist eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe, die sich anlässlich der gerade stattfindenden Intercultural Week im sogenannten Mehrgenerationenhaus trifft, das von Freien Trägern sozialer Projekte genutzt wird.
Um „Substainable Communitys“ soll es in Miras Veranstaltung gehen, bei der nur Englisch gesprochen wird. Bevor die Studenten aufschreiben, was sie darunter verstehen, erklärt Mira, dass das Treffen an diesem Ort stattfindet, um die Studierenden raus aus dem Campus in die Stadt zu holen. „Ihr müsst verstehen, wie die deutsche Community funktioniert.“
Der Informatikprofessor Kai- Uwe Sattler wohnt seit 2003 in Ilmenau, seit 2020 ist er Präsident der TU. Das Treffen findet im Ernst-Abbe-Zentrum auf dem Campus statt. Die Uni sei der Initiative „Weltoffenes Thüringen“ beigetreten, auch zu der Demonstration im Januar „Wir sind Ilmenau“ habe man aufgerufen, erzählt Sattler, 56, ein großer schlaksiger Mann. Auch er habe bei der Kundgebung geredet.
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„Total super“ finde er die Initiative von Mira Rochyadi-Reetz und ihren Mitstreiterinnen von der Uni. Auch er sei der Meinung, dass Ilmenau bunter sein könnte, als es ist, sagt Sattler. Er sei darüber auch im Austausch mit dem Oberbürgermeister Schultheiß, der im übrigen auch Absolvent der TU sei, und der Landrätin Petra Enders (parteilos), die sich am 9. Juni in der Stichwahl gegen einen No Name von der AfD behaupten muss.
Keine Treffpunkte für Studierende
Ein zentrales Problem sei, dass Ilmenau keine Treffpunkte für Studenten habe. Das sie anders als in Uni-Städten wie Marburg, wo eine Studentenkneipe, neben der anderen sei.
Meiden ausländische Studierende Ilmenau vielleicht auch, weil sie Angst vor Fremdenfeindlichkeit haben? Dafür habe er keine konkreten Anhaltspunkte, sagt Sattler. Bei Gesprächen im Vorfeld sei das aber durchaus Thema. „Man wird schon gefragt, ob man hier sicher studieren kann.“ Der Ruf von Thüringen sei ja bekanntlich nicht der beste. 30 Prozent Umfragewerte für die AfD, „das ist schlimm“, sagt Sattler. Was ihn aber auch massiv störe sei, dass „der Osten“ in der Berichterstattung „als braune Ecke“ heruntergeschrieben werde.
Matthias Platzeck, SPD
Schon zu DDR-Zeiten war die Uni ein Kosmos für sich, erzählt Matthias Platzeck (SPD). Von 1974 bis 1979, also lange vor der Wende und lange bevor er selbst Ministerpräsident von Brandenburg wurde, hat Platzeck in Ilmenau Biomedizinische Kybernetik studiert. Abgesehen von Skifahren und Wandern habe es für die Studenten damals nur zwei Gründe gegeben, den Campus zu verlassen: Ins Kino gehen und Geldverdienen in den großen Porzellanfabriken, die es damals noch in Ilmenau gab.
35 Mark auf die Hand für Geschirr sortieren pro Tag, „das war gutes Geld, wir haben uns nicht totgemacht“. Das Sortieren ging so: „Fehlerloses Porzellan kam in die Kiste für den Export in den Westen, kleine Fehler bekam die Sowjetunion, der Rest war Inland“.
Fernab von der Hauptstadt Berlin sei die Uni „einen Tick freier“ gewesen als andere Hochschulen in der DDR, erzählt der heute 70-jährige Platzeck. Bestens in Erinnerung geblieben ist ihm die Büttenrede eines Philosophieprofessors beim Studentenkarneval, für die der später aber streng reglementiert worden sei: In der DDR sei es so, dass man kantig als Würfel zur Welt komme und als abgeschliffene Kugel ende, habe der Professor gesagt.
In Bananenblätter eingewickelte Reisbällchen, geröstete Gemüsefladen, Biskuit in Birnenform mit einer Gewürznelke als Stängel – diese und andere Köstlichkeiten bekommen die Senioren nach der Veranstaltung von Mira, Kamila, Jialan und zwei, drei anderen Frauen von der Uni auf Tellern überreicht. Den ganzen Vortag haben sie dafür in der Küche gestanden. „Hat sehr gut geschmeckt“, sagt eine alte Dame mit grauen kurzen Haaren, die Spitzen an der Stirn sind lila gefärbt. Und, auf den Ehemann an ihrer Seite deutend – sogar der habe alles aufgegessen, „wo der doch sonst immer so mäkelig ist“.
Bei dem netten Beisammensein stellt sich heraus, dass sie, 85, früher mal Friseurin war, und er, 88, Bäcker. Seit einem Schlaganfall gehe er am Rollator. Aber sie gehörten nicht zu den Leuten, die ständig über alles meckern, sagt sie. Die Wohnanlage sei sehr schön, Rente und Pflegegeld ausreichend. „Wir sind zufrieden, für uns wird gesorgt.“
Fix und fertig sei sie an diesem Abend nach Hause gekommen, sagt Mira später am Telefon. Am Ende der Unterhaltung hätten die beiden alten Leute erzählt, dass sie AfD-Wähler seien. „Ist meine Zeit das alles wert?“, habe sie sich da gefragt. Aber nichts zu machen, sei auch keine Lösung. „Außerdem mache ich das auch für mich selbst.“
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