Ungarn und die Rechtsstaatlichkeit: EU-Parlament will Geld streichen
Wegen Streits über LGBT-Rechte wollen die Abgeordneten EU-Gelder für Budapest schnell abdrehen. Doch die Kommission will sich bis Herbst Zeit lassen.
Man dürfe nicht länger warten, hieß es vor dem Hintergrund des Skandals um LGBT-Rechte in Ungarn. In einem neuen Gesetz, das am Donnerstag in Kraft treten soll, will Regierungschef Viktor Orbán jede Form von „Werbung“ für Homosexuelle und andere sexuelle Minderheiten verbieten. Orbáns Vorgehen zeige, dass man jetzt einschreiten müsse, hieß es.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen will sich jedoch noch bis Herbst Zeit lassen. Zwar habe ihre Behörde bereits begonnen, mögliche Verstöße gegen den Rechtsstaat zu prüfen, erklärte die CDU-Politikerin. Man wolle jedoch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs abwarten. Dort hatten Ungarn und Polen gegen den EU-Mechanismus geklagt. Das Urteil wird im Oktober erwartet.
In Brüsseler EU-Kreisen besteht kein Zweifel daran, dass die Richter den neuen Sanktionsmechanismus billigen werden. Umso unverständlicher sei es, dass von der Leyen immer noch zögere, erklärte der grüne Europaabgeordnete Daniel Freund. Er legte ein von seiner Fraktion bestelltes Rechtsgutachten vor, demzufolge EU-Finanzmittel für Ungarn gestrichen werden sollten.
In dem Gutachten bemängeln drei Wissenschaftler eine intransparente Verwendung von EU-Geldern, fehlende Verfolgung von Steuerhinterziehung sowie die fehlende Garantie unabhängiger Gerichte in Ungarn. Es habe sich gezeigt, dass öffentliche Aufträge an Freunde und die Familie von Orbán gingen.
„Die EU-Kommission kann Ungarn die EU-Gelder streichen und muss diesen Schritt jetzt auch unmittelbar gehen“, sagte Freund der taz. Sonst würden „dreistellige Millionenbeträge in die Abschaffung der Demokratie in Ungarn“ fließen. Gemeint ist Ungarns Anteil am Corona-Aufbaufonds „Next Generation EU“. Die Auszahlung soll bereits Ende Juli beginnen.
Kann es also sein, dass Orbán noch im Sommer neue EU-Hilfen bekommt, bevor es im Herbst Finanzsanktionen setzt? Muss der Rechtsstaat so lange warten? Es sieht ganz danach aus. Denn genau diese Abfolge war beim EU-Gipfel im Dezember 2020 unter deutschem Ratsvorsitz festgelegt worden. Kanzlerin Merkel fädelte damals mit Orbán und von der Leyen einen umstrittenen Deal ein.
Der Kompromiss sah vor, dass Orbán dem Rechtsstaatsmechanismus unter dem Vorbehalt zustimmt, dass er nicht sofort angewendet wird – und sein Land zunächst vor dem EU-Gericht klagen kann. Im Kern ist es ein Stillhalteabkommen: Orbán kann das Gesicht wahren, zugleich kann der neue Mechanismus in Kraft treten, wenn auch mit verspäteter Wirkung.
Zeitliche Verquickung mit Corona-Aufbaufonds
Was damals kaum jemand beachtet hat, ist die zeitliche Verquickung mit dem Corona-Aufbaufonds. Auch dieser 750 Milliarden Euro schwere schuldenfinanzierte Sonderfonds ist Teil des Deals. Er sieht für Ungarn ebenso wie für alle anderen EU-Länder neue Milliardenhilfen vor. Damit das Geld fließt, müssen jedoch noch alle 27 Mitgliedsländer zustimmen.
In der Praxis heißt das, dass von der Leyen auf das „Ja“ von Orbán angewiesen ist. Auch dies sei ein Grund dafür, dass die Kommissionschefin mit Sanktionen zögert, heißt es in Brüssel. Würde sie schon jetzt gegen Orbán vorgehen, könnte dieser „Next Generation EU“ blockieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW