Ungarischer Grenzzaun: Ab und zu geht das Tor auf
Ungarn versucht, Flüchtlingen den Weg nach Europa zu versperren. Wer aber durchkommt, wird mit einem Bus weiterbefördert.
Unüberwindbar wirkt dieser „Eiserne Vorhang“ nicht. Ein Bolzenschneider würde reichen. Ein Iraker erzählt, fünf Mann hätten gehoben, dann sei er unten durchgeschlüpft. Wenige Meter dahinter beginnt ein dünnes Auwäldchen. Das Schild „Staatsgrenze“ auf Deutsch, Ungarisch und Englisch blickt auf die ungarische Seite und ist wohl weniger für Flüchtlinge als für die Presse angebracht worden. An einer Stelle machen sechs übereinander verankerte Rollen Nato-Draht anschaulich, wie der Grenzwall aussehen könnte, wenn er einmal fertig ist.
Die Polizeiunteroffiziere József Kardos und Lénárt Lakatos, an ihren dunkelblauen Uniformen als Mitglieder einer Spezialeinheit zu erkennen, versehen Dienst. Am Morgen seien Flüchtlinge in der gewohnten Zahl gekommen, erzählt Kardos, der ein Sternchen mehr am Revers trägt als der Kollege. Sie kämen in Gruppen – rund um die Uhr.
Wenn sich eine Gruppe auf der anderen Seite gesammelt hat, öffnet Kardos ein Türchen im Zaun und lässt die Leute durch. Sie werden dann auf einen Laster geladen und in einen Hangar in der Nähe der Grenzgemeinde Mórahalom transportiert. Dort werden ihnen die Fingerabdrücke abgenommen, Name und Herkunft registriert.
Warum baut man einen 175 Kilometer langen Zaun, wenn man die Flüchtlinge dann doch hereinlässt? „Wir sind dazu verpflichtet“, sagt der Polizist an der Grenze, „denn sie sind ja schon in Ungarn. Der Zaun steht nämlich zehn Meter innerhalb des Staatsterritoriums. Er soll erst durch einen zweiten Grenzwall verstärkt werden.
Weil es eine Frist gibt
Es ist nämlich eine Deadline einzuhalten. Bis Ende August, so hatte die Regierung versprochen, soll der Eiserne Vorhang hochgezogen werden. Das dürfte gelingen. Neben Soldaten sind auch Leute vom Közmunkás, dem kommunalen Arbeitsprogramm für Sozialhilfeempfänger, abkommandiert worden. Auch Strafgefangene müssen mit anpacken.
Der Journalist Gergely Nyilas vom ungarischen Online-Magazin index.hu weiß, wie es im Erstaufnahmelager zugeht. Er hat sich – ausgerüstet mit Baseballkappe und Rucksack – in Serbien unter die Flüchtlinge gemischt und als kirgisischer Asylbewerber Georgis Kulakov registrieren lassen. Man müsse in schmutzigen Zelten übernachten. „Hey, Ghana man“, habe ein Polizist einem Afrikaner, der sich über das Essen und die fehlenden Duschen beklagt habe, geantwortet, „Hungary, no Hilton Hotel! Hungary, food, water, love.“
Insgesamt hätten sich die Polizisten aber menschlich verhalten. „Hungary, no money, Orbán Viktor“, habe einer entschuldigend gesagt. Aus Lagern, wo private Sicherheitsleute das Sagen haben, hört man hingegen hässliche Geschichten von Aggressionen gegen die Schutzsuchenden.
Die Grenze verläuft etwa fünf Kilometer südlich von Mórahalom, einer 6.000-Einwohner-Gemeinde am Rande der Puszta. Bescheidene Bekanntheit verdankte sie bisher einzig ihrem Thermalbad. Die schmucken Häuser und sauberen Straßen geben keinerlei Hinweis darauf, dass sich wenige Kilometer entfernt menschliche Dramen abspielen.
Im Ort bekomme man von den Flüchtlingen kaum etwas mit, sagt Piroska Horváth, die einen Imbiss betreibt. Einmal wollten zwei bei ihr ein Fladenbrot kaufen und mit Euros bezahlen: „Ich habe kein Geld von ihnen genommen“. Auch von anderen Bewohnern der Ortschaft ist kein böses Wort über die Flüchtlinge zu vernehmen. Keiner habe sie je angebettelt, sagt eine Frau, die im Supermarkt einkauft. Auch von Einbrüchen oder anderen Straftaten habe sie nie gehört.
Mórahalom ist bestenfalls eine Durchgangsstation. Die Polizei greift Ausländer ohne gültige Papiere, die sich bis hierher durchgeschlagen haben, auf, bringt sie in den Hangar zur Registrierung und steckt sie dann in einen Bus zum Bahnhof von Szeged. Die mit ihren 165.000 Einwohnern viertgrößte Stadt Ungarns liegt 20 Kilometer östlich von Mórahalom.
Vor dem Bahnhof steht eine Holzhütte, die sonst bei der Kirmes zum Verkauf von Lebkuchenherzen oder heißen Würsten dient. Den Stand betreibt die Freiwilligenorganisation MigSzol (Solidarität mit Migranten). „You are here: Szeged“, klärt ein handgeschriebenes Schild die Neuankömmlinge auf. Flüchtlinge erhalten hier Wasser, eine Kleinigkeit zu essen und Toilettenartikel.
„Wir haben die Gruppe im Juni gegründet, weil die Behörden untätig waren“, erzählt der 35-jährige IT-Experte Balázs Szalai, der sein glattes schwarzes Haar zu einem Rossschweif zusammengebunden hat. Der Bahnhofsvorsteher habe den Wartesaal geschlossen und auch Frauen und Kinder vertrieben. „Da mussten wir etwas unternehmen.“ Über eine Facebook-Gruppe wurden binnen kürzester Zeit zwischen 50 und hundert Unterstützerinnen und Unterstützer mobilisiert.
Freiwillige zur Nachtwache
Die Freiwilligen konnten sich mit der Bahngesellschaft MAV einigen, dass sie die Flüchtlinge vor dem Stationsgebäude betreuen dürfen. Die Stadtverwaltung stellt Trinkwasser, Strom, drei Dixiklos und den Kirmesstand. Alles andere wird durch Spenden oder Sachleistungen ermöglicht. Wichtig ist auch die Nachtwache. Neonazis haben schon versucht, die Schutzsuchenden vor dem Bahnhof aufzumischen.
Ein Bus bleibt an der Haltestelle stehen und entlässt mehrere Dutzend Flüchtlinge, fast ausschließlich junge Männer. Eine einzige Frau ist dabei. Strahlend verlassen sie den Bus, halten den Daumen hoch oder zeigen das Victory-Zeichen. Sie bekommen eine Flasche Wasser gereicht und können sich um ein Lunchpaket anstellen. Der 21-jährige Sayed, Student der Computerwissenschaften aus der ostafghanischen Provinz Laghma, hat eine lange Reise über den Iran, die Türkei, Bulgarien und Serbien hinter sich. Jetzt will er – Inschallah! – nach Belgien. Dort sitzt die Nato. Die Taliban seien hinter ihm her, weil er für die Nato-Truppen gearbeitet habe.
Ali Azar aus Pakistans Hauptstadt Islamabad gibt an, er sei als Schiit verfolgt worden. Er will sich in Deutschland als Chauffeur, am besten Taxifahrer, verdingen. Mustafa aus der syrischen Bürgerkriegsstadt Homs möchte nach Schweden.
„Wir erklären ihnen, was legal und was illegal ist“, sagt Balázs Szalai. Legal können die registrierten Flüchtlinge die Bahn zu den drei offiziellen Lagern benutzen: Bicske, Vámosszabadi und Cegléd. Wie elend es dort zugeht, hat sich schon herumgesprochen. Aber alle Wege führen über Budapest. Als der Zug in die Hauptstadt angekündigt wird, ist der Bahnhofsplatz plötzlich leergefegt.
„Vom Staat kommt keine Hilfe“
Endstation Budapest: Sarvar aus Pakistans Megastadt Lahore hat seine Illusionen von der blühenden Zukunft in Europa verloren. Seit zwei Wochen lagert der 28-Jährige mit geschätzten 600 Leidensgenossen in der Unterführung vor dem Budapester Ostbahnhof. „Sie sind alle naiv und glauben, alle Wege stehen ihnen offen“, sagt er. Auch er will nach Deutschland. Warum? „I like, it’s good!“, erklärt er in rudimentärem Englisch. Aber: „Kein Pass, also keine Weiterreise.“ Wenn sich nicht die Freiwilligen von Migration Aid um sie kümmerten, müssten sie verhungern.
Migration Aid wurde vor vier Monaten über eine Facebook-Gruppe gegründet. Private Spender ermöglichen eine primitive Grundversorgung. „Vom Staat kommt keine Hilfe“, klagt Baba Moise, ein tätowierter Koloss, der als Türsteher vor einer Disco gute Figur machen würde. Aber seine Stimme ist sanft, wie sein Auftreten. Er und rund 6.000 Helfer beweisen, dass nicht alle Ungarn fremdenfeindlich sind.
Sie haben aber gelernt, wie ein Geheimbund vorzugehen. Denn wenn über die sozialen Medien eine Suppenspeisung angekündigt wurde, haben ihnen Rechtsextreme wiederholt das Gesundheitsamt auf den Hals gehetzt, das die Einhaltung der Hygienevorschriften überprüfen wollte. Jetzt tauschen die Helfer Informationen nur mehr mündlich im kleinen Kreis aus.
Problem weitergereicht
Dass die Regierung nicht hilft, scheint System zu haben. Keiner legt den Flüchtlingen Hindernisse in den Weg, wenn sie Ungarn verlassen wollen. Das Problem wird an Österreich weitergereicht. Täglich machen sich Hunderte auf den Weg. Die 93 Asylsuchenden, die vergangene Woche am Wiener Westbahnhof einem völlig überfüllten Railjet aus Budapest entstiegen, schafften es in die Nachrichten.
Über Flüchtlinge, die in vollgestopften Lkw über die Grenze transportiert werden, erfährt man nur, wenn die Fahrzeuge einen Unfall haben, wie zuletzt am Montag in Niederösterreich. Die Schlepper machen sich meistens aus dem Staub, bevor die Polizei kommt. Von den Flüchtlingen geben fast alle dasselbe Ziel an: Germany.
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