Unabhängigkeitstag in der Ukraine: Ohne Heizung und Strom
An diesem Mittwoch feiert die Ukraine ihre Unabhängigkeit. Doch mehr als das bewegt die Menschen die Frage, ob sie den nächsten Winter überstehen.
A m 24. August, dem Tag der Unabhängigkeit der Ukraine, ist genau ein halbes Jahr seit dem Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine vergangen. Ehrlich gesagt ist das nicht ein Jubiläumsdatum, das wir uns gewünscht hätten.
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Im letzten Jahr haben wir den Tag der Unabhängigkeit in Kyjiw mit einer Parade gefeiert, dem Part in der Luft konnte man aus jedem hauptstädtischen Fenster zusehen. Jetzt fliegen keine zivilen Flugzeuge über Kyjiw, und jedes Geräusch am Himmel ruft Sorge hervor.
Und die wichtigste Frage für die Zukunft ist nicht, wie wir den 31. Jahrestag des modernen ukrainischen Staats begehen, sondern wie wir den Winter überstehen.
Während man in den Nachrichten liest, dass man sich in der Schweiz oder in Deutschland darauf vorbereitet, den Gasverbrauch einzuschränken, kaufen in der Ukraine die Stadtverwaltungen primitive Eisenöfen und Brennholz. In den Gebieten unweit der Front bereiten sich die Menschen darauf vor, dass es in diesem Winter schlicht gar keine Heizung geben wird.
stammt aus der Ostukraine und war nach Beginn des Krieges im Donbass 2014 nach Kyjiw gekommen. Am ersten Kriegstag 2022 war er nach Lwiw geflohen, nach 100 Tagen ist er zurück in Kyjiw. Er war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Können Sie sich vorstellen, dass in den ehemals warmen gemütlichen Städten neben mehrgeschossigen Wohnblöcken Brunnen gebohrt und Gruben für Toiletten ausgehoben werden? Und dass die Verwaltungen die Menschen darauf vorbereiten, dass es im Winter für sie keine Zentralheizung geben wird, kein warmes Wasser, keine Kanalisation?
Und bedenken Sie, dass dazu jede Sekunde eine Rakete oder Granate vom Himmel herunterkommen kann.
Sogar in der Hauptstadt hat Bürgermeister Vitali Klitschko dazu aufgerufen, sich vor dem nahenden Winter mit warmer Kleidung und Decken zu bevorraten. Die Stimmung in der Bevölkerung zeigt sich gut auf der Website eines großen Onlinehändlers des Landes: Viele Artikel in der Rubrik „Heizgeräte“ sind mit dem Hinweis „Nicht vorrätig“ gekennzeichnet.
Wir bereiten uns vor – aber wir können nirgendwohin.
Noch trostloser sieht es in den besetzten Gebieten aus. Im Haus meiner Großmutter im nördlichen Donbass steht ein funktionierender Ofen. Aber das Haus hat keine Fenster mehr. Und so ist es auch bei allen anderen Häusern in der Nachbarschaft.
Trotzdem ist es Luxus, in einem eigenen Haus zu leben, denn in den guten alten Gebäuden aus der Chruschtschow-Zeit gibt es keine Öfen mehr. Und Fenster auch nicht.
In der Stadt gibt es bislang weder Strom noch Wasser, noch Gas. Ein in Russland beliebter ukrainophober Witz – „Ohne unser Gas werdet ihr erfrieren“ – hat sich jetzt dahin gewendet, dass die von Russland besetzten Städte im Donbass voller russischer Soldaten und Kriegstechnik sind – aber ohne Heizung, Strom und Gas.
Weder russisches noch anderes.
Im Winter wird es sehr früh dunkel, und ich sehe diesen kalten Nächte mit Horror entgegen. Helfen Decken und Heizlüfter, wenn Russland weiter unsere Städte bombardiert? Wie werden diejenigen, die ohne Dach über dem Kopf sind, und diejenigen, die jetzt die Ukraine verteidigen, überleben? Wie lange wird dieser schreckliche Winter dauern? Wie viele von uns werden bis zum nächsten Frühjahr nicht mehr leben?
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
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Einen Sammelband mit den Tagebüchern bringt der Verlag edition.fotoTAPETA im September heraus.
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