Stromausfall in der Ukraine: Seine eigene Arzthelferin sein

Wenn in der Ukraine der Strom ausfällt, ist es nicht einfach nur dunkel. Auch medizinische Versorgung funktioniert nicht mehr. Ein Erfahrungsbericht.

2 Menschen gehen während des Blackouts über eine Straße, nur eine Laterne leuchtet

Stromausfall in der Ukraine Foto: Andrew Kravchenko/ap

Am Tag des bisher größten Blackouts in der Ukraine hatte ich einen Termin bei meiner Zahnärztin. Sie hatte einen Zeitpunkt vorgeschlagen, zu dem planmäßig Strom da sein sollte. Doch die russischen Raketen hatten die Stromversorgung so stark beschädigt, dass es nicht nach Plan verlief. Das An- und Ausschalten von Strom erinnert an eine Lotterie. Ob es Strom gibt oder nicht, ist Glücksache.

Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.

Noch vor dem Krieg hatte ich beschlossen, mir einen Traum zu erfüllen: Ein schönes und gesundes Lächeln. Dafür musste ich eine feste Zahnspange bekommen. Sie wurde mir eingesetzt. Dann begann der Krieg. Unabhängig von Beschuss oder anderen Ereignissen muss man mit so einer Zahnspange mindestens zweimal pro Monat zum Zahnarzt. Ich hatte überlegt, alles sein zu lassen, aber die Ärztin sagte, dass ich an dem Tag, an dem der Krieg ende, ein schönes und gesundes Lächeln haben sollte. Dagegen lässt sich nichts einwenden.

Und darum also wieder mal ein Zahnarztbesuch. Ich muss unbedingt eine Füllung erneuern lassen. Anrufen kann man die Ärztin nicht: Wegen des Stromausfalls ist auch keine Mobilfunkverbindung möglich. Deshalb bin ich pünktlich zum Termin da. In der gesamten Klinik sitzt nur meine Zahnärztin. Sie erwartet mich. Wir sehen uns an. Sie sagt: „Es gibt keinen Strom, aber damit kann ich mich arrangieren.“ Sie breitet all die schrecklichen Pinzetten und Instrumente vor mir aus. „Die Lampe, mit der wir deine Füllung trocknen, hat noch ein bisschen Strom, das genügt. Leider ist meine Assistentin nicht gekommen, deshalb musst du selber assistieren. Bist du bereit?“ – „Natürlich bin ich bereit“, antworte ich.

Auf Bitte der Ärztin schaltete ich meine Handy-Taschenlampe an und leuchtete mir nach ärztlichen Anweisungen selber in den Mund. Daneben musste ich die Instrumente anreichen und die ganze Prozedur auch noch aushalten, die ich schon seit meiner Kindheit so gar nicht mag. Aber die Füllung wurde erneuert, die Zahnspange neu eingestellt. Strom gab es erst nach mehreren Tagen wieder.

In Odessa bezeichnen wir das als Erfahrung oder Erlebnis. Wegen der Stromsperren fahren zum Beispiel keine Trolleybusse mehr. Wir erleben jetzt das Fahrradfahren und gehen viel zu Fuß. Essen kochen wir jetzt auf einem Campingkocher. Ein Freund von mir hat eine Bierdose aufgeschnitten und sie auf den Kopf gestellt, sodass die gewölbte Unterseite oben ist. Dorthinein hat er Öl gegossen, hat eine Kerze in die Dose gestellt und brät so kleine Fischstückchen. Unsere Aufgabe ist: Überleben.

Meine Ärztin sagt, dass an dem Tag, an dem der Krieg zu Ende geht, am Tag unseres Sieges, meine Zähne gesund sein sollen und mein Lächeln unwiderstehlich. Beim letzten Termin sagte sie, dass ich die Spange noch zwei, drei Monate tragen muss. Wie ich darauf warte!

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey

Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung.

Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der Verlag edition.fotoTAPETA im September herausgebracht

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist Chefredakteurin des ukrainischen Nachrichtendienstes USI.online. Sie ist Mutter von zwei Kinder (9 und 12).

Eine Illustration. Ein riesiger Stift, der in ein aufgeschlagenes Buch schreibt.

Diese Kolumne ist nur möglich dank Ihrer finanziellen Hilfe. Spenden Sie der taz Panter Stiftung und sorgen Sie damit für unabhängige Berichterstattung von Jour­na­lis­t:in­nen vor Ort.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.