Umstrittener Vertrag über Energiecharta: Wertebasierter Handel, aber richtig
Deutschlands ECT-Ausstieg reicht nicht aus. Für eine ethische Handelspolitik sollten die Klagerechte von Unternehmen gestutzt werden.
N ach Italien, den Niederlanden und Spanien hat nun auch Deutschland angekündigt, aus dem umstrittenen Energiecharta-Vertrag (ECT) auszusteigen. Der Vertrag wurde in den 1990er Jahren unterzeichnet, um westlichen Unternehmen Investitionsschutz in den ehemaligen Sowjetstaaten zu bieten. Heute wird er jedoch überwiegend von europäischen Unternehmen genutzt, um europäische Staaten zu verklagen, wenn sie das Klima schützen.
Italien verabschiedete sich als erstes Land 2016 aus dem ECT, doch aufgrund einer 20 Jahre währenden Nachhaftung („sunset clause“) klagte das britische Ölunternehmen Rockhopper 2017 gegen das Verbot der Öl- und Gasförderung in Küstennähe und macht aktuell „entgangene Gewinne“ in der Höhe von 275 Millionen US-Dollar geltend. Eine ähnliche Nachhaftung droht auch allen jetzt Ausstiegswilligen – es sei denn, es gelingt ihnen oder der EU eine Neuverhandlung des Vertrags ohne ISDS. ISDS – direkte Klagerechte von multinationalen Unternehmen gegen Staaten – sind nicht nur im ECT enthalten, sondern laut Unctad – der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung – in 95 Prozent der weltweit 2.584 bestehenden internationalen Investitionsabkommen. Konzerne können klagen, wenn ihre Fabriken beschlagnahmt werden, aber auch wenn sie sich „unfair behandelt“ fühlen oder „indirekt“ enteignet.
lebt in Österreich und ist Initiator des Projekts „Gemeinwohl-Ökonomie“ und Autor des Buches „Ethischer Welthandel“.
Das kann alles und jedes sein: Atomausstieg, Umweltschutz, Anhebung von Mindestlöhnen, die Förderung der Schwarzen Bevölkerung in Südafrika oder die Nichtgewährung von Pharmapatenten. Eine Studie aus Kanada hat gezeigt, dass bis 2010 40 Prozent der Investitionsstreitigkeiten gegen demokratische Gesetze gerichtet waren. Von den abgeschlossenen Verfahren wurden bisher 37 Prozent von Staaten und 28,5 Prozent von Unternehmen gewonnen; 19,5 Prozent endeten mit einem Vergleich – was bedeutet, dass die Unternehmen in fast 50 Prozent der Fälle mit ihrer Klage zumindest etwas erreicht haben.
In den günstigsten Fällen erhielten sie Entschädigungen in Milliardenhöhe aus Steuermitteln. Die Gesamtzahl der Klagen ist seit Mitte der 1990er Jahre auf 1.190 angewachsen. Es ist bedenklich, welche Paralleljustiz hier ohne nennenswerte öffentliche Debatte entstanden ist.
Option: Globaler Gerichtshof für Menschenrechte
Eine alternative Entwicklung des Völkerrechts wäre, dass zuerst die Rechte von Menschen („natürlichen Personen“) abgesichert werden, bevor die Rechte von Unternehmen („juristische Personen“) bedient werden. Drei Völkerrechtsexperten um den ehemaligen österreichischen UN-Sonderbeauftragten Manfred Nowak haben ein Statut für einen globalen Gerichtshof für Menschenrechte (Global Court of Human Rights) ausgearbeitet. Dieser würde auf der Grundlage von 21 Menschenrechtsabkommen arbeiten und Betroffenen ein faires Verfahren ermöglichen und Entschädigung zusprechen – nicht nur von Staaten, sondern auch von multinationale Unternehmen.
Ein solch überfälliges Element einer Global Governance findet sich jedoch nicht auf der Agenda der EU. Stattdessen möchte sie den Konzernen einen Multilateralen Investment Court (MIC) bereitstellen, der zwar die wichtigsten Verfahrensmängel der gegenwärtigen Investitionsschiedsgerichte beseitigen, jedoch nichts an der grundlegenden Schieflage, dass nur Konzerne klagen dürfen, aber nicht Menschen, beheben würde. Man stelle sich vor, was passieren würde, wenn Menschen vor einem internationalen Gericht auf „unfaire Behandlung“ durch multinationale Unternehmen oder „indirekte Verletzung“ ihrer Menschenrechte klagen könnten. Diese Analogie zeigt, in welche Schieflage das Völkerrecht geraten ist.
Vor diesem Hintergrund ist der Austritt Deutschlands aus dem Energiecharta-Vertrag zwar ein Schritt in die richtige Richtung, doch die Tatsache, dass die Bundesregierung gleichzeitig bei Ceta, das Konzernklagerechte enthält, aufs Gaspedal tritt und Abkommen mit Mexiko, Chile und Indien anstrebt, lässt den ECT-Austritt eher als Feigenblatt erscheinen. Was genau Wirtschaftsminister Robert Habeck meint, wenn er die Handelspolitik „neu aufstellen“ und „wertebasiert“ ausrichten möchte, ist nicht erkennbar.
Ethischer Welthandel: So könnte es gehen
Hier ist ein Vorschlag für eine substanzielle Neuausrichtung der Handelspolitik: Als Alternative zu blindem Freihandel (mehr Handel ist immer besser) und Protektionismus (derzeit die einzig diskutierte Alternative) könnte ein ethischer Welthandel ein neues Paradigma begründen. Handel wird darin zum Mittel, das den eigentlichen Zielen dient: Menschenrechte, Klima- und Umweltschutz, sozialer Zusammenhalt, Verteilungsgerechtigkeit, Demokratie und Frieden. Einklagbar wären forthin die Ziele, nicht mehr die Mittel. Statt das Handels- und Investitionsrecht außerhalb der UNO (WTO, bilaterale und multilaterale Abkommen) anzusiedeln, könnten die zukünftigen Spielregeln in einer „United Nations Ethical Trade Zone“, einer ethisch grundierten Handelszone der UN, verankert werden.
Länder, die sich den Abkommen und Gerichten zum Schutz des Klimas, der Artenvielfalt, der Menschen- und Arbeitsrechte oder der kulturellen Vielfalt unterwerfen, könnten sich mit ethischen Zöllen vor denen, die nicht kooperieren, schützen. Unter dieser Prämisse könnte jedes Land so offen oder geschützt sein, wie es will (echter „Freihandel“). Alle Länder wären frei, Investitionen zu ihren Gunsten zu regulieren. Ländern mit niedrigeren Einkommen sollten strukturelle Vorteile angeboten werden, wie die Erlaubnis zur Nutzung geistigen Eigentums. Weiterentwickelt würde auch die Global Governance: von einer globalen Fusionskontrolle und einer Finanzaufsicht bis hin zum schon erwähnten Gerichtshof für die Menschenrechte. Angesichts der drängenden ökologischen und sozialen Probleme ist es an der Zeit, die Ansage, die Handelspolitik „wertebasiert neu aufzustellen“, mit Leben zu füllen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker