Umstrittener Kleriker in der Türkei: Homophobie von Erdoğans Gnaden
Der türkische Präsident stärkt einem homophoben Kleriker den Rücken. Der macht indirekt Homosexuelle für die Corona-Pandemie verantwortlich.
Homosexualität, Unzucht, das Zusammenleben von Mann und Frau ohne verheiratet zu sein – all das führe zur Verrottung der Gesellschaft und letztlich auch zu Krankheiten und Seuchen, hatte Ali Erbaş in einer geradezu mittelalterlich anmutenden Hass-Predigt am Freitag behauptet. Indirekt machte er damit Schwule und Lesben für die Coronaepidemie in der Türkei verantwortlich. Als Vorsitzender der staatlichen Religionsbehörde Dianet ist Erbaş der oberste Islam-Vertreter in der Türkei.
In der Hauptmoschee von Ankara sprach Erbaş – vor leeren Rängen, aber in diverse Fernsehkamaras – über die schlimmen Folgen von Homosexualität und Unzucht und forderte alle Muslime im Land auf, sich zusammenzutun und ihre Mitmenschen vor solchen Versuchungen des Teufels zu schützen.
In einer Erklärung wandte sich daraufhin die altehrwürdige Anwaltskammer von Ankara scharf gegen die Predigt von Ali Erbaş. Sie verurteilte den Hass auf Schwule, Lesben und die gesamte LGBT-Gemeinde, die der oberste lslam-Prediger mit seinen Worten schüren würde. Erbaş solle seine Worte zurücknehmen.
Ermittlungen gegen Anwaltskammer
Eine Reaktion auf die Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Die Religionsbehörde zeigte die Anwaltskammer bei der Generalstaatsanwaltschaft an. Der Vorwurf: Die Anwaltskammer verbreite Hassreden gegen die Religion. Tatsächlich nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die Anwaltskammer, der nun vorgeworfen wird, sie betreibe eine „Öffentliche Herabwürdigung religiöser Werte eines Teils der Gesellschaft“.
Am Montagabend dann schaltete sich Erdoğan im Anschluss an eine Corona-Kabinettssitzung in die Auseinandersetzung ein. „Ali Erbaş ist völlig korrekt“, sagte er. „Für den Islam ist Homosexualität eine schwere Sünde. Es ist daher seine Pflicht, auf die Aufgaben der Gläubigen hinzuweisen. Da Ali Erbaş der Vorsitzende der Religionsbehörde ist, ist ein Angriff auf ihn deshalb auch ein Angriff auf den Staat“.
Zwar relativierte Erdoğan seine Aussagen, indem er anfügte, die Gebote des Islam würden natürlich nur für Muslime gelten, doch sind in der Türkei – zumindest auf dem Papier – 98 Prozent der Bevölkerung muslimisch.
Gespaltene Gesellschaft
Die Auseinandersetzung macht deutlich, wie tief in der Türkei der Graben zwischen den islamistischen Vertretern der sunnitischen Mehrheit und den Republikanern im Land ist. Nicht nur die regierungsnahen Zeitungen, auch konservative Parteipolitiker, die sich sonst in Opposition zu Erdoğan befinden, verteidigten den Prediger.
So verurteilte Ahmet Davutoğlu als Vorsitzender der Zukunftspartei, die sich im letzten Herbst von der AKP Erdoğans abgespalten hatte und seitdem versucht, sich einen gesellschaftspolitisch progressiveren Anstrich zu geben, nicht etwa die Predigt von Ali Erbaş, sondern die Anwaltskammer. In einer Pressemitteilung erklärte er: „Wir verurteilen die Attacke einer Minderheit auf die Werte der Gläubigen“.
Der Vorsitzende der religiösen Saadet-Partei, Temal Karamollaoğlu, der bei der letzten Wahl noch mit der säkularen Republikanischen Volkspartei CHP eine Koalition gegen Erdoğan gebildet hatte, sagte: „Die Prinzipien des Islam und die daraus resultierenden Familienwerte dürfen nicht als Hass-Kriminalität bewertet werden“.
Lediglich die CHP verteidigte die Anwaltskammer. Ihr Sprecher Faik Öztrak erklärte: „Die Gläubigen haben das Recht zu glauben, was sie wollen, aber sie sollen keine Hass-Reden halten und andere zu Feinden der Gesellschaft abstempeln“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“