Ukrainische Jugendliche in Deutschland: Integration gelingt, nur wie gut?
Mehr 200.000 ukrainische Kinder gehen in Deutschland zur Schule. Ein Erfolg? Nicht unbedingt, sagen Elternverbände und Forscher:innen.
„Es ist eine großartige Integrationsleistung unseres Schulsystems“, sagte dazu die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz (KMK) Karin Prien am Dienstag auf einem Pressegespräch des Mediendienstes Integration. Prien betonte, dass die Länder aufgrund der Erfahrung der Jahre 2015/16 schnell reagiert und bereits Anfang März eine Taskforce eingerichtet hätten. In vielen Bundesländern bestehe die Schulpflicht für die Geflüchteten ab dem ersten Tag.
Auch Natalie Roesler vom Bundeselternnetzwerks der Migrant*innenorganisationen für Bildung und Teilhabe (bbt) ist mit der Entwicklung großteils zufrieden. „Zu Beginn haben viele Schüler parallel am Onlineunterricht aus der Ukraine teilgenommen“, sagt sie. Mittlerweile sei die Zahl aber deutlich gesunken. „Die Bereitschaft, sich in das deutsche Schulsystem zu integrieren, wächst“.
Dennoch sieht Roesler Handlungsbedarf. Von ukrainischen Eltern wisse sie, dass die Schulen ihre Kinder aus Raum- oder Personalmangel nicht aufnähmen. Eine Recherche des Mediendienstes Integration bestätigt das. So warteten in Nordrhein-Westfalen Ende Oktober rund 1.000 Kinder auf einen Schulplatz, in Berlin nach Medienberichten 1.600.
Handlungsbedarf sichtbar
KMK-Präsidentin Prien räumte ein, dass es „hier und da“ noch Probleme gäbe. Es sei aber völlig normal, dass ein Kind nach seiner Ankunft in Deutschland nicht schon am ersten Tag die Schule besuche. Die fehlende Plätze sind jedoch nicht der einzige Kritikpunkt von Roeslers Verband. Der bbt wünscht sich unter anderem auch mehr Beratungsangebote für Eltern. Oft gelinge die Betreuung nur durch ehrenamtliches Engagement. „Diese Unterstützung für die Familien muss flächendeckend sein und finanziert werden“, so Roesler.
Noch kritischer fällt die Bilanz der Berliner Migrationsforscherin Juliane Karakayali aus. So würden ukrainische Schüler:innen oftmals zu lange in Willkommensklassen bleiben, obwohl die Separierung von anderen Schüler:innen zu schlechteren Lernergebnissen führe und stigmatisierend sein könne. Karakayali verweist unter anderem auf eine aktuelle Studie des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen. Demnach gelingt Geflüchteten, die zunächst in eine Vorbereitungsklasse gesteckt werden, seltener der Sprung aufs Gymnasium.
Wie geflüchtete Kinder unterrichtet werden, ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. In sechs Ländern – darunter Brandenburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Thüringen – lernen geflüchtete Kinder in diesem Schuljahr zusammen mit den anderen Schüler:innen. In den übrigen werden sie zunächst separat unterrichtet, bis ihr Deutsch gut genug für den Regelunterricht ist. In Bayern, NRW, Berlin und Sachsen-Anhalt gibt es unterschiedliche Modelle.
Für Karakayali ist dieser Flickenteppich ein Anzeichen dafür, dass sich seit 2016 nicht so viel verbessert habe. Vor allem vermisst sie einheitliche Vorgaben für den Unterricht: „In vielen Bundesländern gibt es kein Curricula für die Willkommensklassen und auch keine klaren Kriterien, wann die Kinder in die Regelklasse wechseln sollen“, so Karakayali. In der Realität würden Kinder in den Regelklassen geparkt, weil es an Ressourcen wie Personal fehle.
Ukrainische Lehrkräfte sollen helfen
KMK-Präsidentin Prien bekräftigte, dass die Schüler:innen in einer Willkommensklasse natürlich eine „klare Perspektive auf Regelunterricht“ bekommen müssten. Auch deshalb hätte die KMK eine vereinfachte Übernahme ukrainischer Lehrkräfte ins deutsche Schulsystem auf den Weg gebracht.
In ihrem Bundesland Schleswig-Holstein seien bereits 160 ukrainische Lehrkräfte eingestellt worden. Allerdings sei das nicht so einfach möglich, da ukrainische Lehrer:innen in der Regel nur einen Bachelor-Abschluss hätten – die KMK-Standards sähen jedoch einen Masterabschluss vor.
Laut Mediendienst Migration sind bundesweit rund 3.000 ukrainische Lehrer:innen übernommen worden, jedoch meist nicht als vollwertige Lehrkraft, sondern nur als Lernbegleiter:in. Schätzungen zufolge werden jedoch mindestens 13.400 zusätzliche Lehrkräfte gebraucht, um die neuen Schüler:innen aus der Ukraine unterrichten zu können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen