Ukrainische Geflüchtete in Polen: Aufnahme – aber kein polnisches Abi
In Polen leben Hunderttausende geflüchtete Kinder aus der Ukraine. Doch der polnische Staat unternimmt wenig, um sie ins Schulsystem zu integrieren.
Empfohlener externer Inhalt
„Manchmal kommen die Kriegstraumata der Kinder bei eigentlich harmlosen Aufgaben oder Spielen heraus. Wir hängen die Bilder dann auch hier im Treppenaufgang oder in den Schulfluren auf“, sagt Antonina Michałowska, die stellvertretende Direktorin der Warszawska Szkoła Ukraińska (SzkoUA) – der ukrainischen Schule in Warschau. „Das erleichtert es den Kindern, über ihre Erlebnisse offen zu reden. Wir haben auch eine Psychologin.“
800.000 schulpflichtige Kinder
Hier, in der Warschauer Privathochschule für Ökologie und Verwaltung, lernen zurzeit 240 ukrainische Kinder von der ersten bis zur elften Klasse. Nach dem Ende des Schuljahres am 30. Juni werden die Elftklässler ihre Abiturprüfungen ablegen, so wie sie dies in Friedenszeiten auch in der Ukraine getan hätten.
Allein in Polen leben Schätzungen zufolge 800.000 schulpflichtige Kinder, die aus der Ukraine geflohen sind. Doch bislang gehen von ihnen nur 160.000 auf polnische Schulen. Alle anderen nehmen sich eine längere Auszeit von der Schule, lernen online – oder gehen auf ukrainische Schulen in Polen, wie die SzkoUA
„Wir hatten mit dem Gebäude großes Glück“, berichtet deren Vize-Schulleiterin Michałowska. Der Betrieb der Privathochschule wurde mit Beginn der Coronapandemie auf Online-Lehre umgestellt, deshalb steht das Gebäude momentan leer. Das Haus, ein langgestreckter Kasten aus der Zeit des kommunistischen Plattenbaus, liegt an einer vierspurigen Straße im Stadtteil Ochota. Doch direkt vor der Tür fahren auch Busse und Straßenbahnen, die einen in einer halben Stunde ins Stadtzentrum bringen.
Mit Beginn des neuen Semesters im September sollen die Studentinnen und Studenten zurückkommen, aber eventuell nur am Abend und am Wochenende. Dann könnte die ukrainische Schule, die eigentlich nur drei Monate lang existieren sollte, das zweistöckige Gebäude tagsüber weiter nutzen.
Unterstützung von der polnischen Regierung erhält die Schule nicht: „Der Staat zahlt keinen Zloty hinzu. Ohne Großsponsoren wie die Stiftung Save the Children International, die die Miete und Personalkosten trägt, wären wir heute nicht da, wo wir sind“, kritisiert Antonina Michałowska und lässt ihren Blick durch das Lehrerinnen-Zimmer schweifen. Doch niemand nickt zustimmend oder lächelt ihr zu. Denn von den insgesamt zwanzig ukrainischen Lehrerinnen, die allesamt nach dem Überfall Russlands auf das Nachbarland in den Westen geflohen sind, spricht kaum jemand Polnisch. Das gilt auch für die dreizehn Fachkräfte, die die Schule technisch am Laufen halten. Gerade mal zwei Personen, Michałowska und ein Kollege aus dem Warschauer Klub der Katholischen Intelligenz (KiK), helfen bei Kontakten zu polnischen Behörden, Firmen, Nachbarn oder Stiftungen.
Finanzielle Hilfe kommt von privaten Stiftungen
Antonina Michałowska, stellvertretende Direktorin der ukrainischen Schule in Warschau
Die Schule ist auch auf Unterstützung aus der polnischen Privatwirtschaft, etwa von Firmen-Stiftungen, angewiesen. „Ohne die ginge hier nichts“, erklärt Michałowska. „Das fängt beim schnellen Internet an. Denn wir haben ja kaum Schulbücher und müssen viele Übungen und Lehrmaterial von ukrainischen Internetseiten beziehen.“ Sie lächelt. „In der Corona-Hochphase wurden die ukrainischen Internet-Lernplattformen stark ausgebaut. Das kommt uns jetzt zugute. Manchmal fordern wir sogar die Kinder auf, ihre Smartphones aus der Tasche zu ziehen, sodass sie Aufgaben auf ukrainischen Websites lösen können.“
Überhaupt, das Internet: Die meisten Ukrainerinnen suchen Informationen im Internet und finden auch die Schulen für ihre Kinder über ukrainisch- und russischsprachige Webseiten. Zentrale Anlaufstelle für sie ist die Stiftung „Ukrainisches Haus“. Es gibt aber auch Infopunkte vor allem an den Bahnhöfen und landesweite Telefon-Hotlines, wo sich die Geflüchteten Unterstützung holen können.
Polens Bildungsminister Przemysław Czarnek hatte kurz nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine behauptet, dass es an polnischen Schulen rund eine halbe Million Plätze für ukrainische Flüchtlingskinder gäbe. Bis auf ein paar Willkommensklassen mit intensivem Polnisch-Unterricht sind allerdings kaum spezifische Angebote entstanden. Das schlechte Angebot führt dazu, dass ukrainische Kinder ihre Schulzeit in Polen mit frustrierenden Erfahrungen wie schlechten Noten und Sitzenbleiben beginnen müssen.
Das gehe völlig an den Bedürfnissen von kriegstraumatisierten Eltern und Kindern vorbei, stellte Warschaus Oberbürgermeister Rafał Trzaskowski kürzlich fest: In Warschau gehen ihm zufolge lediglich 20 Prozent aller registrierten ukrainischen Schulkinder auf eine polnische Grundschule oder ein zum Abitur führendes Lyzeum. Den Eindruck hat Michałowska auch: „Tatsächlich scheinen die meisten ukrainischen Kinder hier in Polen entweder online an ihren alten Schulen weiterzulernen oder aber gar nichts zu tun. Für ein paar Monate auf eine polnische Schule zu gehen, wo die Kinder kaum etwas verstehen, vergrößert nur ihren Stress.“
Dutzende ukrainische Privatschulen sind entstanden
In ganz Polen gibt es zurzeit wohl einige Dutzend ukrainischer Privatschulen, die nach Kriegsausbruch schnell aus dem Boden gestampft wurden und nun neben dem polnischen Schulsystem existieren: Sie sind nicht der polnischen Schulbehörde, sondern der ukrainischen Schulaufsicht in Kiew unterstellt. „In unserem konkreten Fall ist es so, dass die Kinder formal auf Schulen der Gemeinde Dawidow bei Lwiw gehen, in Wirklichkeit aber hier sind“, erklärt Vize-Direktorin Michałowska. Das unterscheide sich aber von Schule zu Schule.
Einen anderen Weg mit gleichem Ziel ist etwa die ukrainische Juristin Larysa Zhygun gegangen. Nach ihrer Flucht aus Kiew hat die junge Frau zusammen mit Freunden und Bekannten die Stiftung „Unzerstörbare Ukraine“ gegründet, die mit dem ukrainischen Bildungsministerium eng zusammenarbeitet. Auf die drei ukrainischen Schulen, die seit Mai von der Stiftung finanziert werden, gehen zurzeit über 600 geflüchtete Kinder aus der Ukraine: 289 in Krakau, 244 in Breslau und 83 in Warschau.
„Zuerst wollten wir einfach nur, dass die Kinder ihr Schuljahr nach dem gewohnten Curriculum in der Ukraine beenden können, doch jetzt wollen wir den Status einer ‚Internationalen Schule‘ erreichen, an der die Kinder das polnische und das ukrainische Abitur erwerben können“, so Zhygun. In der Ukraine arbeitete sie für karitative Stiftungen und sammelte Spenden und Zuschüsse von Ministerien und Firmen. „Wie gesagt, ich bin keine Lehrerin“, betont sie: „Ich bin Juristin.“ Als solche fand sie eine vergleichbare Lösung wie auch die SzkoUA. Ihre Stiftung schloss mit der Stadt Saporischschja in der Ostukraine einen Vertrag, demzufolge die Kinder offiziell dort die Schule besuchen, ihre Prüfungen aber als Externe in Polen ablegen.
Auch die drei Schulen der Stiftung „Unzerstörbare Ukraine“ wurden zunächst durch Spenden finanziert, die in ihrem Fall vor allem von ukrainischen Firmen und NGOs kamen. Seit einiger Zeit sind aber mehrere internationale Organisationen Großsponsoren für die Einrichtungen.
An der Warszawska Szkoła Ukraińska läutet die Pausenglocke, beinahe übertönt vom lauten Rufen und Schreien der Kinder. Alle Türen gehen auf. Eine Erstklässlerin mit Brille und Pferdeschwanz stürmt mit ihrem Schreibheft nach draußen. Sie will gelobt werden für zwei Seiten Schönschrift in ukrainischer Sprache. Ein Mitschüler, der das beobachtet, schnappt sich auch sein Heft, rennt auf den Flur und umarmt die Englischlehrerin.
Das Gehalt der Lehrerin reicht nicht zum Leben
Natalia unterrichtet in fünf Klassen Englisch. Sie ist mit zwei Kindern aus Tschernihiw in der Ostukraine nach Polen gekommen. Die 38-jährige Ukrainerin möchte nicht mit Nachnamen genannt werden und auf keinen Fall über den Krieg sprechen. „Ich fange sonst gleich wieder an zu weinen“, sagt sie. Sie sei froh, dass ihre achtzehnjährige Tochter und ihr siebenjähriger Sohn mit ihr in Polen seien, erzählt Natalia, und freue sich, auch in Polen ukrainische Kinder unterrichten zu können. Aber: Das Geld reiche vorne und hinten nicht.
Die Miete für eine kleine Wohnung sei zu hoch. „Also habe ich drei Schlafplätze in einem Hostel gemietet. Aber ich muss ja jeden Tag drei Personen durchbringen“, klagt sie. Zusätzlich zu den Vormittagsstunden in Warschau arbeitet sie deshalb noch abends und unterrichtet Kinder online, die in Tschernihiw geblieben sind. „Ich vermisse sie sehr!“, ruft sie und merkt nach einer kleinen Pause in bestimmtem Ton an: „Ich muss aber auch sagen, dass meine Kinder sehr tapfer und tatkräftig sind.“
So habe ihre Tochter ohne jede Polnisch-Kenntnisse einen Job bei McDonald’s gefunden und unterstütze die kleine Familie finanziell. Der Sohn gebe sich viel Mühe an der Schule in Warschau. „Ich bin sehr stolz auf meine Kinder!“, so Natalia. Sie lernten jetzt alle Polnisch, denn niemand wisse, wie lang sie noch in Polen bleiben müssten. Nach Westen weiterreisen will sie auf keinen Fall: „Nein, da wären wir ja noch weiter von unserer Heimat entfernt. Wir wollen doch so schnell wie möglich zurück.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“