Geflüchtete aus Ukraine mit Behinderung: „Sie landen schnell bei uns“

Der Verein Die Sputniks kümmert sich um russischsprachige Familien mit behinderten Kindern. Aktuell sind das vor allem aus der Ukraine geflüchtete.

Ein Kind im Rollstuhl vor einem Auto

Ein Kind wartet an der ukrainisch-rumänischen Grenze auf Weitertransport Foto: Andreea Alexandru/AP

taz: Frau Dengler, Ihr Verein berät und vernetzt russischsprachige Eltern mit behinderten Kindern. Hatten Sie jemals so viel zu tun wie seit der Ankunft der ukrainischen Geflüchteten?

Natalia Dengler: Schon seit Gründung im Jahr 2017 hatten wir einen gigantischen Zulauf, erst aus Berlin und dann aus ganz Deutschland. Es war wie die Büchse der Pandora, die wir geöffnet haben. Wir haben aktuell 2.700 Anfragen von Familien, die wir noch nicht bearbeitet haben, weil unsere Leute das nicht schaffen.

Woher kommt dieser große Bedarf?

Laut Statistik gibt es 100.000 russischsprachige Familien mit behinderten Kindern oder Jugendlichen in Deutschland. In Berlin sind es etwa 6.000 Familien. Fast alle von ihnen waren allein auf sich gestellt. Viele, auch die, die seit 20 Jahren hier leben, kennen ihre Rechte nicht. Die Informationen zu Pflegeleistungen, Therapien, Medikamenten, Hilfsmitteln, Schule und Kita – das ist nichts, was sie irgendwo gesammelt in verständlicher Sprache finden. Das haben wir alles über Jahre mühsam zusammengesucht und in einfache russische Sprache übersetzt.

Es gibt solche Foren, in denen sich Eltern mit behinderten Kindern vernetzen und gegenseitig beraten, bereits seit vielen Jahren in deutscher Sprache. Warum ist ein Angebot in russischer Sprache so wichtig?

Wir bekommen tatsächlich regelmäßig den Vorwurf von Ämtern und auch von der organisierten Selbsthilfe: Warum sprechen Sie Russisch und nicht Deutsch? Wir würden eine monokulturelle Parallelgesellschaft befördern und nicht die Integration.

ist Mitgründerin und Geschäftsführerin des Vereins Die Sputniks. Der 2017 gegründete Verein hat seinen Hauptsitz in Berlin und Filialen sowie Selbsthilfegruppen in ganz Deutschland. Infos: die-sputniks.de (mah)

Und was erwidern Sie dann?

Ich bin immer wieder entsetzt über das geografische und geschichtliche Verständnis dieser Menschen. Als gäbe es nur ein russischsprachiges Land! Manche wissen nicht einmal, dass zum Beispiel in der Ukraine fast alle Menschen Russisch verstehen und meistens auch sprechen können, so wie in allen postsowjetischen Republiken. Unsere Familien kommen aus 28 Ländern und Republiken, aus verschiedenen Kulturen und Religionen. Wenn diese Familien mit einem behinderten Kind in Deutschland ankommen, muss die Situation des Kindes erst stabilisiert werden, bevor überhaupt an Deutschlernen zu denken ist.

Vor dieser Herausforderung stehen jetzt auch die geflüchteten ukrainischen Familien.

Wenn ukrainische Eltern mit behinderten Kindern, die flüchten wollen oder geflüchtet sind, auf Ukrainisch oder Russisch nach Informationen suchen, dann landen sie ganz schnell bei uns. Ohnehin kam ein Drittel unserer Familien schon vorher aus der Ukraine. So sind wir erste Ansprechpartner geworden. Wir hatten vom ersten Tag des Krieges an Hunderte Anfragen.

Wie genau helfen Sie?

Mit einem Kind mit Muskelatrophie kannst du dich nicht in einen überfüllten Zug kämpfen. Einige Kinder können nur liegend transportiert werden. Viele Eltern haben Angst, dass sie die Reise gar nicht schaffen mit ihrem Kind. Sie rufen uns dann aus dem Keller an, in dem sie sitzen. Manchen gehen die lebensnotwendigen Medikamente für ihre Kinder aus.

Können Sie diesen Familien auch aus der Ukraine heraus helfen?

Für die Versorgung, den Transport und die Verteilung haben wir ein Netzwerk aufgebaut mit Hilfsorganisationen in der Ukraine, in Polen, in der Schweiz und in Schweden. Wir haben bis jetzt rund 1.000 Familien herausgelotst und untergebracht. Wir haben auf die Schnelle ein improvisiertes digitales, von uns begleitetes Forum aufgebaut, in dem sich momentan Hunderte von betroffenen Familien aus der Ukraine austauschen.

Welche Unterstützung brauchen die Familien dann hier vor Ort?

Aktuell geht es vor allem um die Unterbringung. Ein Kind mit starken körperlichen Beeinträchtigungen können Sie nicht im vierten Stock unterbringen. Und dann kommen erstaunlich viele Familien mit autistischen Kindern. Nach dem Stress der Flucht verschlechtert sich deren psychische Situation, sie werden zum Teil aggressiv. Es gab dramatische Probleme mit Menschen, die solche Familien bei sich aufgenommen haben und nicht wussten, was das bedeutet. Oder autistische Kinder, die sich in Sammelunterkünften in jedes Bett legen und nicht zu bremsen sind. Da müssen wir passende Angebote finden und aufklären.

Wie ist das mit Hilfsmitteln wie Pflegebetten oder Badeliegen, die konnten ja auf der Flucht gewiss nicht alle mitgenommen werden…

Einige bekommen wir als Spenden aus Sanitätshäusern und von Herstellerfirmen, und unsere Eltern spenden Hilfsmittel, die zu klein geworden sind. In den ersten Wochen war auch die Versorgung in Krankenhäusern und bei Ärzten schwierig, es gab ein chaotisches Vakuum, wir haben dann mit einzelnen Ärzten kooperiert. Das ist aber inzwischen viel besser geworden.

Wer macht denn diese ganze Arbeit gerade bei Ihnen, wenn Sie sagen, es gab schon vorher zu viele Anfragen, als zu schaffen waren?

Wir haben unsere Basisarbeit faktisch eingestellt, da gibt es nur noch eine Notbetreuung. Alle aktiven Kräfte arbeiten gerade mit geflüchteten Familien. Ich will nicht lügen, aber das bringt unsere Ehrenamtlichen wirklich an ihre Grenzen. Es gibt auch negative Situationen, in denen Menschen Ansprüche stellen und aggressiv werden, wenn sie nicht erfüllt werden. In denen behauptet wurde, ein Kind sei krank, und dann ist es gar nicht so. In denen eine Wohnung als unpassend empfunden wird, weil der Fernseher zu klein ist oder die Bettwäsche nicht überall das gleiche Muster hat. In denen unsere Helfer beschimpft werden, weil sie nur Russisch sprechen und kein Ukrainisch. Für unsere Familien, die ja auch behinderte Kinder zu Hause haben, die diese Hilfe zum Teil in der Nacht erfüllen, ist das schwer. Wir werden auch müde.

Hilft Ihnen Ihre Arbeit in der Flüchtlingskrise, mehr Gehör als russischsprachiger Verein zu finden?

Wir sind bekannter geworden, das stimmt. Man hört uns jetzt auch von politischer Seite mehr zu. Wir haben schon vor einem Monat an Sozialsenatorin Katja Kipping geschrieben, dass wir uns klar sein müssen, was Beratung und Begleitung von heutigen Geflüchteten für die Zukunft bedeutet. Jetzt ist eine Notsituation, da ist alles etwas anders, die Anfragen sind andere, und die Ehrenamtlichen arbeiten über ihre Kräfte hinaus. Aber irgendwann werden die ganz regulären Anfragen kommen, und zwar in einem noch gigantischeren Ausmaß als vorher schon. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass dies mit den bestehenden Beratungsstrukturen auch hier in Berlin zu schaffen sei. Selbst wenn man da ein bisschen aufstockt.

Was braucht es, um die Situation bewältigen zu können?

Wir machen uns seit Jahren für eine russischsprachige Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung stark. Das gibt es für türkisch- und arabischsprachige Menschen. Aber auf Russisch: fast null, erst recht nicht speziell für Kinder. Die existierenden Beratungsstellen haben einzelne russischsprachige Berater oder arbeiten mit Sprachmittlern. Aber die sind überlaufen, es dauert, bis man einen Termin bekommt. Und sie erreichen nur wenige russischsprachige Menschen, weil sie keinen Zugang zu dieser Community haben. Die Migrationsberatungen und Integrationslotsen haben vielleicht Zugang, aber sie sind nicht spezialisiert auf die Bedarfe von Menschen mit Behinderung, erst recht nicht die von Kindern.

Was wäre Ihr Vorschlag?

Wir haben einen großen Pool an Peer-Beratern, das ist die Struktur der Zukunft. Wir begleiten in Berlin aktuell rund einhundert ukrainische Familien, viele davon beraten wir in Gruppen durch Peers, bei denen wir mehrere Stunden zusammensitzen und unser Wissen weitergeben. Wir initiieren niedrigschwellige Anlaufstellen. Aber für all das bräuchten wir wenigstens eine finanzierte Fachkraft, die unsere Peers betreut.

Ist Berlin eigentlich überhaupt ein guter Ort für Eltern mit behinderten Kindern?

Nein. Du bekommst keinen Kinderarzt, weil die völlig überlaufen sind. Du wartest vier Monate auf Therapien und sechs bis neun Monate auf einen Termin im sozialpädiatrischen Zentrum. Schulen und Kindergärten sind genauso überlaufen. Das weiß jeder.

Stimmt die Vorstellung etwa nicht, dass es Menschen mit Behinderung in Ländern wie der Ukraine oder Russland schlechter geht?

Es klingt vielleicht ein bisschen lustig, wenn man aus einem Land kommt, in dem wenig funktioniert, und dann hier die Situation kritisiert. Deutschland ist im Vergleich gut, weil die soziale Absicherung gut ist. Auch bei komplizierten Erkrankungen wird man hier viel besser versorgt. Aber es ist ein Unterschied, was man hier theoretisch alles bekommen könnte und was man in der Realität bekommt. Die Regelversorgung ist schlecht, und das ist besonders bei Kindern mit Behinderung dramatisch, weil die ersten Jahre entscheidend sind. Hier musst du um alles kämpfen, und das kostet Zeit und Kraft.

Und das ist in der Ukraine anders?

Dort gibt es private Reha-Einrichtungen, die gut sind. Die kosten Geld, aber das kann man sich leisten, wenn man in der Ukraine Arbeit hat. Die Familien flüchten jetzt nach Berlin und sagen: Unser Kind hat zu Hause sechs Therapien in der Woche bekommen, wo bekomme ich das jetzt hier? Und wir müssen sagen: Wir können dich unterstützen bei Hilfsmitteln, der Arzt- und Therapeutensuche. Aber es dauert dann trotzdem meist Monate, ehe du überhaupt einen Termin bekommst. Neu angekommene Migranten, besonders die vom Krieg traumatisierten, benötigen unbedingt Unterstützung in ihrem Kampf um Standardversorgung. Das machen wir.

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