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Ukrainische AtomkraftwerkeMeiler mitten im Kriegsgebiet

Vier aktive Atomkraftwerke und das stillgelegte Tschernobyl – selbst wenn die russische Armee den Betrieb nicht stören will, bedeuten die AKWs Gefahr.

Atomkraftwerk Saporischschja (Archivbild) Foto: Dmytro Smolyenko/Ukrinform/imago

Berlin taz | Wie Schiffe liegen sie aufgereiht am Unterlauf des Dnjepr, der in der Ukraine zu einer Kaskade von Stauseen aufgestaut ist. Die sechs Reaktorblöcke vom sowjetischen Typ WWER-1000 machen das Atomkraftwerk Saporischschja, etwa 80 Kilometer von der gleichnamigen Indus­triestadt entfernt, zum größten AKW Europas.

Am Montagmorgen hat die russische Armee gemeldet, dass das „komplette Territorium um das Kraftwerk“ eingenommen sei. Das Personal im Kraftwerk arbeite planmäßig weiter, die Radioaktivität sei „in der Norm“, verkündet Iwan Konaschenkow, Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums.

Von ukrainischer Seite wurde die Einnahme bisher nicht bestätigt. Das Kraftwerk selbst meldete am Montagmorgen auf seiner Webseite, der Betrieb laufe planmäßig. Einen Hinweis auf russische Soldaten gab es nicht. Allerdings wurden über das Wochenende bereits drei Blöcke heruntergefahren. Einer sei in Wartung, zwei seien in Reserve, heißt es.

Dass das Kraftwerk und die angrenzende Stadt Enerhodar mit ihren gut 50.000 Einwohnern in den Krieg hineingeraten würde, war seit Donnerstag klar. Das AKW liegt weithin sichtbar am Stausee von Kachovka in der Steppenregion nördlich der Krim. Dorthin sind es etwa 150 Kilometer, zum Donbass im Osten 200 Kilometer. Ob es bei der Einkreisung des Kraftwerks zu Kämpfen gekommen ist, bleibt unklar. Das AKW wurde wegen des Angriffs am Donnerstag von Kräften der ukrainischen Nationalgarde verstärkt bewacht.

Seit den 1970er-Jahren als „Energiegeschenk“ geplant

Doch selbst wenn die russischen Streitkräfte kein ­Interesse haben, den Betrieb des Kraftwerks zu gefährden, die Situation in der Umgebung ist bedrohlich. Direkt neben dem Kraftwerk erstreckt sich ein atomares Zwischenlager mit Platz für 360 Castoren unter freiem Himmel.

Außerdem befindet sich unweit des AKWs das größte Kohlekraftwerk der Ukraine. Und somit ist die Stadt Enerhodar seit Jahrzehnten die Energiehauptstadt der Ukraine – und ein strategisch wichtiger Ort. Mit zusammen 9.600 Megawatt Leistung aus Kohle und Atom kommen von hier etwa 20 Prozent der gesamten Elektro­energie der Ukraine. Vier Hochspannungsleitungen, zwei davon über den Stausee, versorgen das Land mit Strom.

Es war die sowjetische Staatsführung, die in den 1970er Jahren diese Region zu einem Schwerpunkt der Energiegewinnung ausgebaut hat. Die Industriegiganten im Donbass, die Kombinate von Saporischschja und die Rüstungsschmiede von Dnipropetrowsk (heute Dnipro) hungerten nach Energie.

Enerhodar, frei übersetzt das „Energiegeschenk“, sollte den Hunger stillen. Ab 1970 entstand diese Stadt auf dem Reißbrett, so wie auch die Stadt Prypjat beim AKW Tschernobyl, als Wohnort für das Personal der beiden Kraftwerke. Der letzte AKW-Block von Saporischschja ging 1995 ans Netz.

60 Prozent des Strombedarfs kommt aus der Atomkraft

Zur selben Zeit wurden auch in anderen Regionen der Ukraine AKWs errichtet – bei der Stadt Riwne vier Reaktorblöcke und bei der Stadt Chmelnytzkyj, wo zwei Blöcke fertiggestellt wurden. Diese beiden Kraftwerke liegen im Westen der Ukraine, noch fern von russischen Armeekolonnen – und bisher relativ sicher.

Anders verhält es sich mit den drei Blöcken des AKW Juschnoukrajinsk, das sich nur etwa 100 Kilometer nordöstlich von Odessa befindet und möglicherweise ebenfalls bald von russischen Truppen erreicht werden könnte.

Das bekannteste AKW, das Kraftwerk von Tschernobyl, wurde bereits am 24. Februar nach heftigen Kämpfen von der russischen Armee eingenommen. Am Ort der Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986 wurde im Dezember 2000 allerdings der letzte Reaktorblock abgeschaltet. Gefährlich ist die Lage trotzdem. Wie in Enerhodar gibt es auch dort ein atomares Zwischenlager. Außerdem ist der 1986 zerstörte Block 4 mit einer gewaltigen Dach­kons­truk­tion überdeckt, die zwar vor Radioaktivität schützt, aber Granat­beschuss nicht standhalten dürfte.

60 Prozent des Strombedarfs lieferten die ukrainischen Reaktoren 2021, gefolgt von 28 Prozent aus Steinkohle und 5 Prozent Wasserkraft. Seit der Orangenen Revolution von 2004/05 bemüht sich das Staatsunternehmen Energoatom, das alle AKWs betreibt, bei Kraftwerkstechnik und der Versorgung mit Brennstäben von Russland unabhängiger zu werden. Die Laufzeit der meisten Reaktoren, einst ausgelegt auf 30 Jahre, wurde verlängert.

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