Ukraine vor dem EM-Viertelfinale: Nationale Euphorie
In der Ukraine ist die Begeisterung vor dem Spiel gegen England im wahrsten Sinne des Wortes grenzenlos. Der Erfolg seines Teams vereint das Land.
Am Morgen nach dem historischen Achtelfinalerfolg gegen Schweden in der allerletzten Minute der Verlängerung kamen sogar die ukrainischen Minister in den Trikots der Nationalmannschaft zur Kabinettssitzung. „Das ist ein riesiger Erfolg unserer Mannschaft. Ich beglückwünsche die Spieler und bedanke mich bei ihnen und ihren Trainern. Solche Ereignisse vereinen die Ukraine, die mit ganzem Herzen bei unserem Team ist“, sagte der Premierminister der Ukraine, Denys Schmyhal, zu Beginn der Sitzung.
Auch Präsident Wolodimir Selenski hielt seine Emotionen nach dem Spiel nicht zurück. „Das ganze Land ist stolz auf euch! Heute gab es kein „ihr“ und „wir“. Heute gab es nur UNS. Eine Mannschaft mit 40 Millionen Menschen. Von Ushgorod nach Lugansk. Von Tschernigow bis Simferopol an der Krim. Die ukrainische Mannschaft, die Charakter und Willensstärke zeigt, die leidet, Schmerzen aushält, aber aufsteht und sich wehrt!“, schrieb der ukrainische Präsident.
Aber noch emotionaler reagierten die einfachen Ukrainer auf diesen Sieg. Mehr als 24 Stunden lang posteten sie in den sozialen Netzwerken gegenseitige Gratulationen und sprachen darüber, wie stolz sie dieser Sieg mache. „Wir waren für die Ukraine! Diese Emotionen! Wir sind stolz! Unsere Helden!“, schreibt Nikolai von der Krim. Auch im besetzen Teil des Donbass war man für die ukrainische Mannschaft. Sogar in einem Fußballforum posteten prorussische Separatisten Glückwünsche an die Ukraine.
Selbst den Ukrainern in der Berliner Diaspora war das Spiel der ukrainischen Fußballnationalmannschaft nicht gleichgültig. An diesem historischen Abend verstummten die Schreie auch in einer von Ukrainern gegründeten Kneipe in Kreuzberg nicht. Mit gelb-blauen Fahnen, in Volkstrachten und Nationaltrikots konnten junge Ukrainer und in Berlin lebende Ukrainerinnen beim Public Viewing für echte Feierstimmung sorgen. Die Nationalhymne verstummte noch lange nach dem Sieg der Ukraine nicht.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Traum vom Sieg gegen die Russen
Dabei musste die ukrainische Nationalmannschaft in der Verlängerung erst einen schweren Schock verkraften. Der gerade eingewechselte Artem Besedin konnte nach einem schwedischen Foul wegen einer schweren Knieverletzung nicht mehr weiterspielen. Doch am Ende schoss die Mannschaft, nachdem sie an Stärke gewonnen hatte, in der letzten Minute vor einem möglichen Elfmeterschießen noch das entscheidende Tor. In der Ukraine macht man schon Witze darüber, dass das Land vielleicht auf die gleiche Weise mit Unterstützung anderer die russische Aggression beenden und der EU beitreten könne.
Es schien fast, als habe die ukrainische Gesellschaft, erschöpft vom Krieg und der Pandemie, an diesem Abend einen Energieschub zur weiteren Bekämpfung ihrer Probleme erhalten. Die Ukrainer haben den Glauben an ihre eigene Stärke wiedergewonnen. Die Euphorie nach dem Spiel erinnerte an die Freude, als der Euromaidan siegte und der diktatorische Präsident Janukowitsch gestürzt wurde. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbass hatten die Ukrainer in den vergangenen sieben Jahren nicht viel Anlass zu Freude und Stolz. Aber der Sieg der Fußballnationalmannschaft konnte die Ukrainer vereinen – auch die, die jetzt in den von Russland besetzten Gebieten leben.
Am Samstag trifft die ukrainische Mannschaft in Rom auf England. Natürlich sind die Briten die großen Favoriten. Und ganz unabhängig davon, wie das Spiel ausgeht, hat die Ukraine schon jetzt gesiegt.
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett