Ukraine nach dem Umsturz: Protest in der Provinz
Auf der Krim, im Osten und im Westen der Ukraine trauern die Menschen, haben Ängste und auch Hoffnung.
SIMFEROPOL/LEMBERG/LUHANSK taz | Auf der Krim herrschte am Sonntag Unsicherheit. Im Osten und Süden der Halbinsel kam es zu zahlreichen Kundgebungen aus entgegengesetzten Richtungen. Einige Menschen sind erbost über die Ereignisse in Kiew. Viele trauern um die auf dem Maidan gefallenen Demonstranten. Andere wiederum verstehen nicht, wieso sie derjenigen gedenken sollen, die dort Militärangehörige von der Krim umgebracht haben.
In Kertsch kam es bei einer Kundgebung zu Zusammenstößen. In Jalta fanden Proteste gegen die alte Regierung statt. In Sewastopol wurde der abgesetzte Präsident Janukowitsch dazu aufgefordert, harte Maßnahmen gegen die neuen Machthaber zu ergreifen.
In Simferopol, der Hauptstadt der Krim, kam es am Sonntag zu zwei Kundgebungen. Krimtataren ehrten ihren als nationalen Helden verehrten Anführer Noman Tschelibidhihan, ein Stalin-Opfer. An diese schlossen sich die Aktivisten des Krim-Euro-Maidans an. Die gemeinsame Aktion vertrat Slogans wie „Die Zukunft der Krim und der Ukraine liegt in Europa!“
Auf der anderen Seite erklangen sowjetische Kriegslieder. Am 23. Februar wird im postsowjetischen Raum der Tag der Roten Armee und der Verteidiger des Vaterlands gefeiert. Bei der Kundgebung wurden Einheiten einer Selbstverteidigung gebildet. Die Menschen wurden dazu aufgerufen, die Autonomie der Halbinsel zu schützen. Sie sollten jeglichen Versuch der Provokation sowie gewalttätiger Machtübernahmen unterbinden. Das Motto lautete: „Die Krim geht über alles!“
Getrübte Siegesfreude in Lemberg
Direkt neben der Bühne auf dem Lemberger Maidan hängen dreizehn Fotos. Alles Männer, darunter viele junge Gesichter. Es sind die getöteten Demonstranten aus der Region, fast alle wurden am Horror-Donnerstag in Kiew durch gezielte Schüsse ermordet. Die Menschen kommen und gehen, jeder will Abschied von den Toten nehmen. Lemberg trauert.
Die Freude über den Sieg ist getrübt, von Euphorie keine Spur. „Mein Freund ist dort umgekommen, hoffentlich war sein Tod nicht umsonst“, sagt ein junger Mann. „Wir haben einen hohen Preis dafür bezahlt, dass die Banditen nun weg sind.“ Seine Freundin schluchzt und fügt hinzu: „Dieser Präsident muss vor Gericht. Und das System muss man ändern, damit sich so was nicht mehr wiederholen kann.“
Korruption bekämpfen, Polizei, Justiz, Staatsanwaltschaft von Grund auf zu reformieren: Das sind schwierige Aufgaben. Auch die Spannungen mit dem Osten haben sich nicht in Luft aufgelöst. Das Land steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise. Auch Russland wird versuchen, wieder Einfluss zu gewinnen.
Einiges tun die Lemberger Bürger jetzt schon. Da die Polizei fast nicht mehr präsent ist und das Vertrauen komplett verloren hat, haben die Einwohner eine Bürgerwehr organisiert. Kleine Gruppen in gelben reflektierenden Westen gehen auf Streife. In der Nacht sind auch Auto- und Fahrradpatrouillen unterwegs. „Ich liebe meine Stadt und will, dass sie sicher ist. Deswegen engagiere ich mich“, sagt Marta, die im normalen Alltag als Reiseführerin arbeitet. Viel zu melden hatten die Patrouillen bisher nicht. Die letzten beiden Nächten waren die ruhigsten, die es je gab.
Protest im östlichsten Zipfel der Ukraine
Am Sonntag hat sich die Zahl der Teilnehmer der Demonstration für Reformen in Luhansk, der östlichsten Stadt der Ukraine, mehr als verdreifacht. Mehrere tausend Menschen sind auf der Straße – aber für eine Stadt mit knapp einer halben Million Einwohner sind das immer noch nicht viele.
Bisher waren hier, im Osten, Ängste die Trumpfkarten der alten Machthaber. Eine Angst ist ökonomisch: Die Menschen in Luhansk leben nicht – sie versuchen, von ihren Almosenlöhnen zu überleben. Eine andere Angst ist politisch. Ich bin seit dem 22. November auf dem Maidan der Stadt. Es kam schon vor, dass wir durch die Miliz von den Angriffen von Janukowitsches Schlägern gerettet werden mussten.
Ein weiteres Werkzeug von Janukowitschs Partei der Regionen sind die Medien, die sie kontrolliert. Sie erzählen den Leuten, dass auf dem Luhansker Maidan Zuzügler aus den westlichen Regionen demonstrieren. Die meisten Menschen glauben das – genauso wie, dass auf dem Maidan Drogenabhängige stehen, die Geld für ihre Anwesenheit kassieren. Solche Lüge zu bekämpfen ist sehr, sehr schwer.
Immerhin: Die Konflikte zwischen der russischsprachigen Mehrheit und der ukrainisch sprechenden Minderheit haben in letzter Zeit deutlich abgenommen. Beide Gruppen igeln sich nicht länger ein, viele Leute beherrschen beide Sprachen. Das ist gut, denn endlich haben sich die Bürger hier in der Ostukraine zusammengeschlossen, um ein Regime zu bekämpfen, unter dem alle zu leiden hatten: sowohl die Russisch- als auch die Ukrainischsprachigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr