Übersetzer zu Joshua Cohens Roman: „Dem Chaos der Welt Kontra geben“
Der Übersetzer Ulrich Blumenbach hat fünf Jahre mit Joshua Cohens Roman „Witz“ gerungen. Er spricht über Endlossätze und Verzweiflung beim Übersetzen.
taz: Herr Blumenbach, Joshua Cohens Roman „Witz“ galt als unübersetzbar. Worin bestand die Herausforderung?
Ulrich Blumenbach: Die vielleicht größte Schwierigkeit bei „Witz“ ist, dass man sich die beschriebene Welt oft nicht mehr vorstellen kann. David Foster Wallace schreibt im „Unendlichen Spaß“ komplex, aber immer präzis. Joshua Cohen hingegen lässt die Sprache bewusst immer wieder an der herkömmlichen Aufgabe des Erzählens scheitern, die darzustellende Welt anschaulich vor Augen zu führen. Die Unbegreifbarkeit des Holocaust wird als Unlesbarkeit der Welt literarisches Programm.
Der Unbegreifbarkeit des Holocaust setzt Cohen 900 Seiten Sprach-Overload entgegen. Ist das auch eine Antithese zur Unsagbarkeit der Dinge? Ein mutiger Appell, lieber mehr als weniger zu sagen?
Cohen erweitert die Grenzen des Sagbaren, weil er auf Sinn- und Klangebene mit Anspielungen, Mehrsprachigkeit und Wortspielen aus allen Rohren feuert. Seine Schreibpraxis eröffnet Perspektiven auf eine Welt, in der nicht alles eindeutig, sondern vieles mehrdeutig ist. Komplexe Literatur will dem Chaos der Welt mit dem Chaos der Kunst Kontra geben. Sie ist Kontingenzzumutung und damit das kognitive Gegenangebot zu den gegenwärtig grassierenden Verschwörungstheorien, die eine unüberschaubar gewordene Wirklichkeit durch einfache Erklärungen versimpeln. Es mag ein abstrakter Gedanke sein, aber Texte wie „Witz“ sind in der Politik ihrer Form emanzipative Texte.
Cohen spielt mit dem Jiddischen und Hebräischen. Haben Sie beim Übersetzen noch eine neue Sprache gelernt?
Schön wär’s. Aber immerhin sind traditionelle Formeln wie jüdische Segen und Gebete hängen geblieben. Ich war ganz verdattert, als ich bei der Serie „The Man in the High Castle“ in der Folge, in der Frank Frink eine private Trauerzeremonie für seine ermordete Schwester abhält, das Kaddischgebet plötzlich fast mitsprechen konnte.
Beeindruckend ist die lexikalische Palette, die Sie bedienen. Wie vieler Wörterbücher haben Sie sich denn bei der Übersetzung bedient?
Das lässt sich nicht beziffern. Die berauschende Schönheit von Cohens riesigem Wortschatz geht ja oft auf Fachausdrücke zurück, die dem Edelsteinschleifen, dem Aufbau von Wiederkäuermägen, der Falknersprache und vielen anderen mehr oder weniger obskuren Wissensgebieten entstammen. Dieses Schwelgen im Seltenen habe ich in den entsprechenden deutschen Fachbüchern recherchiert und der Übersetzung integriert.
Haben Sie dabei ein Lieblingswort entdeckt?
Eines? Dutzende! Hunderte! Auch wenn ich die spracherweiternden Neologismen und welterweiternden Fachausdrücke weglasse, bleiben genug übrig: Ich hatte noch nie von dem Kartenspiel „Klaberjass“ gehört, wusste nicht, dass die Schwanzflossen von Walen „Fluken“ heißen, dass „Runsen“ Wildbachrinnen an Gebirgshängen sind, eine „Merzsau“ eine zur Zucht ungeeignete Schlachtsau ist, eine „Aue“ ein Mutterschaf und ein „Hundepünt“ ein spitzgeflochtenes steifes Tauende auf Segelschiffen.
Dazu kommen Wortkreationen wie „Zigeuneradinnen“, „Schrumpelstilzchen“ oder „Zungenzores“, bei denen schon mal die Semantik ausgehebelt wird. Erleichtert das eine Übersetzung oder macht es sie schwerer?
Beides. In einem Text wie „Witz“, in dem die Bedeutungen von Wörtern in alle Richtungen wuchern und explodieren, darf ich zwar sehr viel freier assoziieren als in eher standardsprachlicher Literatur, aber meine Lösungen müssen dann auch funktionieren und einen ästhetischen Mehrwert rüberbringen. Und ein spielerisches Kettenkompositum wie „Nabelschnurgeradeausweglosigkeit“ erfordert natürlich einige Bastelarbeit.
Wie haben Sie sich denn den seitenlangen Endlossätzen angenähert, die sich weder um Grammatik noch um Interpunktion scheren?
Ich habe – wie schon bei den Mäandersätzen im „Unendlichen Spaß“ – versucht, sie im ersten Arbeitsgang abzuspecken, bis ich das grammatische Gerüst vorliegen hatte, das ich im zweiten Arbeitsgang dann mit allen Nebensätzen, Einschüben und Abschweifungen wieder auffüllen konnte. Manchmal klappte das aber nicht, weil Cohen beziehungsweise die englische Syntax beispielsweise durch Partizipialkonstruktionen schwebende oder ambivalente Bezüge ermöglicht, die ich im Deutschen vereindeutigen muss. Da musste ich manchmal schummeln, um ähnliche Uneindeutigkeiten herzustellen.
Joshua Cohen erzählt in seinem überbordenden „Märchen vom Singenden, Springenden Vorhäutchen“ in großen Bögen von der Jagd auf den letzten Juden der Erde. Seiner Geburt an Weihnachten 1999 folgt eine rätselhafte Seuche, die nur er überlebt. Als Heilsbringer wird er zum Gründer eines neujüdischen Kults erhoben, dessen Anhänger jenen, die sich ihnen nicht anschließen wollen, in den Lagern von „Polenland“ zu Leibe rücken. Cohens wahnwitzige Suada überträgt den Zivilisationsbruch des Holocaust in Sprache, die an der Aufgabe des Erzählens immer wieder scheitert. Diese „Shoashow“ in „Hollywood“ ist Literaturliteratur vom Feinsten.
Joshua Cohen: „Witz“. A. d. Engl. von Ulrich Blumenbach. Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2022, 912 Seiten, 38 Euro
Diese Uneindeutigkeiten führen dazu, dass die Lektüre von „Witz“ viel Ausdauer und Frustrationstoleranz erfordert.
Ja, aber Kryptisches wieder kryptisch zu machen, entspricht den Absichten des Autors. Klar, ein unverständliches Buch frustriert, weil es einem vermeintlich die eigene intellektuelle Unzulänglichkeit vor Augen führt. Gute Schwerbücher aber kompensieren diesen Minderwertigkeitskomplex durch Sinnlichkeit und Komik. Wenn man auf einer x-beliebigen Lesebühne die Bonbonpassage aus Pynchons „Die Enden der Parabel“, das Ende der „Rinder des Sonnengottes“ aus Joyce’ „Ulysses“ oder den Unfallbericht des Maurers aus Wallace’ „Unendlichem Spaß“ vorträgt, hängen einem die Leute an den Lippen – oder liegen vor Lachen unter den Tischen. Auch in „Witz“ gibt es Szenen wie die um Mel Chisedic und die „Stampede der Schlampen“, die einfach brüllend komisch sind.
Dachten Sie beim Übersetzen manchmal: Nein, das kann nicht sein, das ergibt doch gar keinen Sinn?
Doch. Natürlich. Ich muss zugeben, dass ich während der Übersetzungsarbeit immer wieder am Sinn des Ganzen gezweifelt habe, weil ich mir die Leser:innen vorgestellt habe, die das Buch einfach entnervt an die Wand schmeißen. Und ich könnte es niemandem übelnehmen. Aber ich bin hin- und hergerissen zwischen ekstatischer Befriedigung höchster Sprachlust und tiefschwarzer Verzweiflung, weil dieses Buch mich immer wieder anschreit „Du kannst mich nicht verstehen und du kannst mich nicht übersetzen!“
Ulrich Blumenbach, 58, ist einer der renommiertesten deutschen Übersetzer aus dem Englischen. Für seine Übersetzung von David Foster Wallace’ Roman „Unendlicher Spaß“ bekam er 2010 den Preis der Leipziger Buchmesse. Außerdem übertrug er u. a. Bücher von Paul Beatty, Truman Capote, Agatha Christie, Kinky Friedman, Stephen Fry und Arthur Miller.
Wann hat Ihnen der Kopf besonders geraucht?
Eigentlich ist die Frage eher, ob es auch Stellen gab, an denen der Kopf nicht rauchte … Aber tatsächlich potenzieren sich die Schwierigkeiten noch einmal im inneren Monolog des letzten Auschwitzüberlebenden Joseph, der den Roman abschließt. Diese dreißigseitige Passage ist ein Gewaltmarsch durch die Geschichte antijüdischer Gewalt seit der Zerstörung des Ersten Tempels, an die sich der sterbende Joseph aber nicht chronologisch erinnert. Er springt assoziativ aus Babylonien ins Polen des 17. Jahrhunderts, zurück zu den Pogromen während der Kreuzzüge, wieder vor in den Holocaust.
Haben Sie sich mit Joshua Cohen zu Übersetzungsfragen ausgetauscht?
Ja, Joshua ist ein wahnsinnig hilfsbereiter und bodenständiger Autor, was man angesichts der literarischen Avanciertheit seiner Texte vielleicht nicht erwarten würde. Er hat mir immer geholfen, wenn ich nicht weiter wusste, mir Links zu Seiten im Netz geschickt, die einzelne Anspielungen erhellten – und in einigen Fällen hat er in gemeinsamen whiskygeschwängerten Nächten sogar neue Wortspiele für die deutsche Ausgabe erfunden. Wenn „Mayor Meir Meyer“, der Bürgermeister von New York, in der Übersetzung jetzt „Bürgermeister Goldbergshyster“ heißt, ist das auf seinem Mist gewachsen.
Wie können sich Leser:innen dem Text am besten nähern, ohne die Lust zu verlieren?
Erstens: Bangemachen gilt nicht. Zweitens: Erst mal nicht um den Plot kümmern. Bei wilden Semiosen wie „Witz“ steht der nicht im Vordergrund. Oder mindestens genauso wichtig finde ich die „Fülle des Wohllauts“, den Rhythmus, den Drive und nicht zuletzt die Komik des Romans, die sich unabhängig davon genießen lassen. Cohen ist ein Überwältigungsrhetoriker und der Roman eine Suada, deren Sturzfluten man sich einfach hingeben sollte.
Dantes „Göttliche Komödie“ lesen wir ja auch nicht, um rauszufinden, ob der Typ seine Beatrice am Ende nun ins Bett kriegt oder nicht. Nach und nach werden sich schon die großen Handlungsbögen abzeichnen, also die Vorgeschichte von Bens Familie, die Genese des Neojudentums, Bens Aufstieg zum Showbiz-Messias in Las Vegas, seine Flucht vor seinen Anhängern, seine Wanderschaft durch verschiedene amerikanische Gegenkulturen und schließlich das lange Finale am Anus mundi der osteuropäischen Massenmordanlagen.
Sie werden nun James Joyce’ Großroman „Finnegans Wake“ neu übersetzen. Er gilt, natürlich, als unübersetzbar. Fühlen Sie sich nach „Witz“ darauf gut vorbereitet?
Ja natürlich, denn Cohen hat technisch einiges bei Joyce abgekupfert. Ironischerweise stand die Beschäftigung mit „Finnegans Wake“ für mich aber am Anfang: Ich habe meine Magisterarbeit über dessen Übersetzbarkeit geschrieben und mit Reinhard Markner den abschließenden Monolog der Anna Livia übersetzt. Erst danach bin ich professioneller Übersetzer geworden, habe mich im Lauf der Zeit wieder zu komplexen Werken hochgeturnt und das Langstreckenübersetzen gelernt. Wallace’ „Unendlicher Spaß“ und Cohens „Witz“ wurden dann die Gesellenstücke, nach denen ich mich jetzt an „Finnegans Wake“ als Meisterprüfung heranwage und damit zu meinen Anfängen zurückkehre.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf