Übers Recht auf innere Unsortiertheit: Alles mit nur einer Hand

Viele Kinder haben die Angewohnheit, sich wirklich selten zwei freie Hände für eine Tätigkeit zu gönnen. Sie haben einfach zu viel im Sinn und zu tun.

Zwei Kinder paddeln auf dem Werbellinsee auf dem Berolina Campingplatz

Paddeln geht einhändig, aber natürlich am besten mit beiden Händen (Symbolfoto) Foto: picture alliance/Annette Riedl/dpa

Vor Jahren habe ich mal ein paar Monate in London gewohnt. Ich hatte mich für ein Auslandssemester eingeschrieben, es war kurz vor der Bankenkrise 2008, die Stadt war arschteuer, und in der Innenstadt war ein mäuseverseuchtes Minizimmer in einer WG ungefähr so teuer wie jetzt ein Zimmer ohne Mäuse in Mitte oder demnächst in Neukölln. Weshalb ich mir in der City auch maximal das Bier abends im Pub leisten konnte.

Einmal stand ich mit meinem Freund vor einem Pub, als ein anderer Gast – noch in Bürokluft, Bier in der einen Hand, Autoschlüssel in der anderen – versehentlich sein Handy fallen ließ. Er bückte sich danach, und schüttete dabei wie in Zeitlupe das komplette Bierglas über seinem Telefon aus. Seine Freunde kriegten sich nicht mehr ein vor Lachen, wir auch nicht.

Keine Ahnung, ob ich das immer noch so witzig fände. Was vermutlich mit meinen Kindern zu tun hat, die ich damals noch nicht hatte: Es ist exakt diese Art von unkonzentrierter Entspanntheit, die mich manchmal echt ein bisschen umhaut.

Der Große hat die Angewohnheit, nie, nie, nie, okay: selten sich wirklich zwei freie Hände für eine Tätigkeit zu gönnen. Also quasi erst die Bierflasche wegzustellen und dann das Handy aufzuheben. Wenn er in seiner Schultasche den verschollenen Impfausweis suchen soll, hat er in der anderen Hand auf jeden Fall irgendetwas anderes, den Wohnungsschlüssel, seine Gesichtsmaske … Weshalb er eben nur mit einer Hand zum Bodensatz aus vergessenen Zetteln, leeren Tintenpatronen und Süßigkeitenpapier in seiner Tasche vordringen kann. Weshalb er den Impfausweis garantiert nicht findet, schon gar nicht „schnell! Weil, wir müssen los!“ (ich), und die Essenkarte findet er auch nicht, und den Schülerausweis erst recht nicht.

Kunstvoll unterm Ellenbogen

Wenn er sein Rad abschließen will, fällt ihm die Trinkflasche auf den Boden. Oder sein Sportzeug. Das klemmt er sich nämlich lieber kunstvoll unter den Ellenbogen, wo aber auch schon sein Fahrradhelm baumelt, als irgendetwas von dem Zeug irgendwo neben sich abzustellen.

Vom Einkaufen kommt er mit Wechselgeld in der einen Hand und Geldbörse in der anderen Hand wieder. Das Geld in die Börse tun ging nicht, weil er ja schon die Bananen und die Milchflaschen in der einen Hand hatte. Den Einkaufsbeutel hatte er vergessen bzw.: „Brauch ich nicht, Mama, tschü-hüss!“

Der Kleine wiederum schafft es, sein honigverklebtes Frühstücksmesser so an die Tischkante zu legen, dass es garantiert auf den Fußboden fällt, wo es liegen und kleben bleibt, während er mit einer Hand die Milchtasse hält und mit der anderen im Frühstücksei rumstochert, bis das Eigelb mit einem schmatzenden Schwung dem Honigmesser hinterherfliegt.

„Upsi“, sagt er dann. Und manchmal flitzt er los und holt den Lappen aus der Spüle in der Küche und wischt rum und macht alles noch schlimmer. Und ich sage nichts, gucke aber wahrscheinlich komisch, weil der Große dann sagt: „Jaha, Mama, wir wissen schon: NICHT SO HEKTISCH!“, und ich sage, dass ich doch gar nichts gesagt habe. Aber Mann, Kinder, eins nach dem anderen!

Grundsätzlich überplant

Kinder haben natürlich absolut ein Recht auf innere Unsortiertheit. Wäre ja auch furchtbar, wenn der Kleine das Honigmesser parallel zum Teller auf dem Tisch platzieren würde. Wenn er das tun würde, würde ich mir Sorgen machen. Ich bin auch ganz froh, dass der Große andere, und da bin ich ganz sicher: schönere, vielleicht sogar wichtigere Dinge im Kopf hat als den Einkaufsrucksack.

Aber trotzdem frage ich mich, wenn das Frühstücksei explodiert: Warum nur, mein Kind, warum?!

Ich habe abends beim Den-Kindern-Hinterherräumen übrigens grundsätzlich zu viel in der Hand. Weshalb mir das Lego in die Wäschetonne im Badezimmer fällt, das ich eigentlich auf dem Weg in die Küche, wo das schmutzige Glas hinsoll, noch schnell im Kinderzimmer abladen wollte.

Ich bin auch grundsätzlich überplant, was meine Freizeit angeht, weshalb ich noch im Schwimmbad bin, wenn ich eigentlich schon mit der Freundin in der Pizzeria sitzen sollte. Mit andere Worten: Ich stelle das Bier nie aus der Hand, bevor ich das Handy aufhebe. Menschenskind noch mal.

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Seit 2011 bei der taz. Leitet gemeinsam mit Sunny Riedel das Ressort taz.eins. Hier entstehen die ersten fünf Seiten der Tageszeitung, inklusive der Nahaufnahme - der täglichen Reportage-Doppelseite in der taz. Davor Ressortleiterin, CvD und Redakteurin in der Berliner Lokalredaktion. Themenschwerpunkte: Bildungs- und Familienpolitik.

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