Über Sprachverarbeitungen: Mythen formen unser Wissen

Nach 16 Jahren Merkel ist „Kanzler“ aus meinem Wortschatz verschunden. Wie viele Kanzler braucht es, bis „Kanzler“ mir wieder normal erscheint?

Olaf Scholz zeigt mit einem Finger in Richtung

Jetzt regiert er: Kanzler Olaf Scholz Foto: Michele Tantussi/reuters

Brauchen Sie auch jedes Mal ein Sekündchen, wenn jemand „der Kanzler“ sagt? Ganz richtig hört sich das nicht an, oder? Nicht falsch, aber einfach nicht ganz vertraut – so wie wenn jemand „eine Lunte brechen“ sagt oder „Ewig währt am längsten“. Nun liegt es zweifellos am ewigen Währen der Kanzlerin, dass Kanzler aus meinem Wortschatz verschwunden ist.

Ich bin zwar nicht sechzehn und habe schon Kanzler erlebt. Aber Kanzler Schröder ist mittlerweile heillos überschrieben von Altkanzler Schröder (besser noch: Fossilkanzler Schröder). Vor Kanzler Kurz indes haben sich diverse Spitznamen geschoben. Helmut Kohl wiederum war mein erster Kanzler und deswegen hat mein Hirn nur Bundeskanzlerkohl abgespeichert. Ebenso wenig erscheint das Amt der Kanzlerin jetzt zu trennen von der, nunja, Kanzlerin. Womöglich geht es Ihnen anders, wenn Sie mehr Kanzler erlebt haben. Aber meine Sprachverarbeitung weigert sich noch zu akzeptieren, dass so ein dahergelaufener Olaf das Kanzlerinnenamt so einfach ausfüllen können soll. Höchstens zur Vertretung.

Das hat nichts mit Überzeugung zu tun. Ich war nie besonderer Fan von Merkel. Ich bin ihr dankbar für einiges, bewundere sie für mehreres. Ich bin hingegen nicht der Meinung, dass ihr, nur weil sie ihren Job gemacht hat ohne zwischendurch autoritär-narzisstische Anwandlungen zu kriegen, der Friedensnobelpreis gebührt. Aber meiner Sprachverarbeitung sind Überzeugungen egal.

Mythen sind keine Ausnahme

Das ist, wie Mythen gemacht werden. Assoziieren und vergessen: Das Oberhaupt der Regierung heißt Kanzlerin und es gab nie eine andere. Virologen haben immer dunkle Strubbelhaare und ein freundlich geknautschtes Gesicht. Markus Söder ist die Vernunft in Person.

Der Mythos wird „zweite Natur“, sagt Roland Barthes und ekelt sich davor. Aber Mythen sind keine Ausnahme, sondern formen, was wir wissen.

Als Merkel antrat, wurde diskutiert, ob man das Wort „Kanzler“ überhaupt in eine weibliche Form überführen müsse. Oder ob man à la française eher ein „Madame le Ministre“ draus machen müsse. Heute hat die Kanzlerin diese Debatte elegant überholt, ohne sie jemals einzuholen – während ich zeitgleich immer noch Mühe habe, mir Kindergärtner und Klempnerinnen überhaupt bildlich vorzustellen, ohne dass ein dummer Spruch an meine Lippen klopft.

Wie viele Kanzler, bis Kanzler mir wieder normal erscheint? Vielleicht bloß der eine. Vielleicht bin ich schon in zwei bis drei Wochen wieder eingenormt. Heimlich sage ich bis heute „Rückrad“, wenn ich „Rückgrat“ meine, weil ich keine Lust habe, das Wort korrekt zu verdrahten. Und auch ein bisschen Angst habe, dass der Teil von mir, der „Rückrad“ gelernt hat, dann verschwindet. Aber nun hab ich Angst, den Teil von mir zu verlieren, für den ein Kanzlerinnenamt mal das Normalste der Welt war.

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