US-Supreme Court zu Straffreiheit: Geschwächtes Immunsystem
Der Oberste Gerichtshof der USA hat Präsident*innen einen Freibrief für Verbrechen ausgestellt, sofern es eine Amtshandlung ist.
Das Urteil, das der Oberste Gerichtshof der USA am Montag veröffentlichte, hat heftige Schockwellen erzeugt. Mit der konservativen Mehrheit von 6 zu 3 Richterstimmen entschied der Supreme Court, auch ehemalige US-Präsidenten – und ihre Mitarbeiterstäbe – seien immun gegen jedwede Strafverfolgung für alle offiziellen Amtshandlungen während ihrer Amtszeit.
Damit, schrieb die liberale Richterin Sonia Sotomayor in ihrem ungewöhnlich scharf abgefassten Minderheitsvotum, „schafft das Gericht einen rechtsfreien Raum um den Präsidenten und dreht den Status quo um, der seit der Staatsgründung galt.“
Zwar räumte das Gericht ein, nicht alle Handlungen eines Präsidenten seien als „offizielle“ Amtshandlungen zu betrachten, und für die „nicht offiziellen“ gelte die Immunität nicht. Das aber genau zu definieren, überließen die Richter den unteren Instanzen.
Erinnerungen an einen ganz anderen Fall werden wach: Als der chilenische Diktator Augusto Pinochet 1998 auf der Grundlage eines spanischen Haftbefehls in Großbritannien festgenommen wurde, hatten die britischen Lordrichter darüber zu entscheiden, ob er als Staatschef Immunität genieße.
Immun, immun, immun.
In einem auch für das Völkerstrafrecht historischen Urteil entschieden sie, Folter und Mord gehörten niemals zu den vor Strafverfolgung zu schützenden legitimen Amtshandlungen eines Präsidenten. Eine solch klare Definition liefert das Urteil des US Supreme Court nicht.
Wenn aber jede Anweisung eines Präsidenten immer als offizielle Amtshandlung gelten kann, ist das ein sehr weites Feld. Mit den Worten von Richterin Sotomayor: „Weist das Navy Seals Team 6 an, einen politischen Rivalen zu ermorden? Immun. Organisiert einen Militärputsch, um an der Macht zu bleiben? Immun. Nimmt Bestechungsgeld im Austausch für eine Begnadigung? Immun. Immun, immun, immun.“
Anlass für die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes waren die verschiedenen Verfahren gegen Ex-Präsident Donald Trump wegen seines Versuchs, auf betrügerische Art und Weise seine Wahlniederlage 2020 in einen Sieg zu verkehren. Nachdem er in diesem Zusammenhang insgesamt drei Strafverfahren ausgesetzt war, brachte er schon Ende 2023 die Forderung nach absoluter Immunität ins Spiel.
Es war klar, dass eine Entscheidung darüber eher früher als später beim Obersten Gerichtshof landen musste – doch statt den Fall schon im Dezember zügig an sich zu ziehen, brauchten die Richter*innen dazu bis Februar, für die Einberufung einer Anhörung dann bis Ende April und für ein Urteil bis zum allerletzten Tag vor der Sommerpause am Montag. Allein dieses Timing verschaffte Trump bereits die Erleichterung, die seine Anwälte im Wahljahr unbedingt wollten.
Strapaziertes Vertrauen
Das Urteil vom Montag befreit Trump mit relativ großer Sicherheit von jeglicher Sorge, einer der verschiedenen Prozesse könne noch vor dem Wahltag beginnen oder gar in eine entscheidende Phase treten. Zumal derselbe Oberste Gerichtshof bereits am vergangenen Freitag entschieden hatte, die wegen ihrer Beteiligung am Sturm aufs Kapitol am 6. Januar 2021 Angeklagten und Verurteilten könnten nicht wegen „Behinderung einer staatlichen Handlung“ (obstruction) belangt werden.
Sie verzögerten zwar die Zertifizierung des Wahlsieges von Joe Biden um viele Stunden, aber der entsprechende Paragraf sehe für eine Verurteilung auch vor, dass Beweise oder Dokumente vernichtet worden sein müssten. Die Entscheidung betrifft rund 250 bereits verurteilte Kapitolstürmer*innen – und Ex-Präsident Trump, der als Anstifter des Mobs unter anderem nach demselben Paragrafen angeklagt war.
Mit diesen und einer ganzen Reihe weiterer Entscheidungen, nicht zuletzt der Abschaffung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch, hat es der Oberste Gerichtshof geschafft, das Vertrauen in seine Rechtstreue und Unabhängigkeit arg zu strapazieren. Die schlimmsten Befürchtungen, die von liberaler Seite gegen die drei von Trump nominierten konservativen Richter*innen vorgebracht worden waren, scheinen sich zu bewahrheiten.
Alle drei, Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett, waren von der rechtskonservativen Juristenorganisation Federalist Society vorgeschlagen worden, von deren Liste sich der damalige US-Präsident auch bei der Besetzung vieler Dutzend Stellen an unteren Bundesgerichten bediente.
Ich, der Oberste Gerichtshof
Trump selbst behauptet bei allen Verfahren gegen ihn, sie seien vom amtierenden Präsidenten Biden angestrengt worden; politisch-motivierte Prozesse, um sich eines Konkurrenten zu entledigen, schimpft er. Und die gesamte Republikanische Partei ist rhetorisch darauf eingestiegen, der Regierung lawfare vorzuwerfen, also den Missbrauch der Justiz für politische Zwecke.
Gleichzeitig aber brüstet sich Trump damit, das Abtreibungsrecht abgeschafft zu haben. Alle hätten es gewollt, behauptete er vor ein paar Wochen, „ich habe es getan“. Ich, der Oberste Gerichtshof.
Verständlich, dass Richterin Sotomayor zu dramatischer Wortwahl greift. Sie beendet ihr Minderheitsvotum mit den Worten: „In Angst um unsere Demokratie.“ Für politische Kommentator*innen ist das inzwischen gängig. Für Richter*innen ist es ein gewaltiger Schritt.
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