US-Nuklearforscher über Sicherheitslage: „Die nukleare Anarchie ist realistisch“
Die Sicherheitslage ist angespannt wie nie, schuld sind vor allem die USA, erklärt Peter Kuznick vom US-Institut für nukleare Studien.
taz: Warum will Donald Trump den INF-Vertrag über nukleare Mittelstreckenraketen kündigen?
Peter Kuznick: Wir haben eine Atmosphäre des Misstrauens gegen Russland. Das gibt ihm die Rückendeckung von beiden Parteien. Die Republikaner betrachten Rüstungskontrolle als Einschränkungen der amerikanischen Souveränität. Und selbst Demokraten, die den Rückzug aus dem INF-Abkommen eigentlich kritisieren, sind gegenwärtig so russophob, dass die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung es als legitim betrachtet, dass Trump das tut. Für Trump erfüllt der Rückzug damit mehrere Zwecke: Er lenkt von den anderen Krisen ab und er erlaubt ihm, einen Schachzug zu machen, ohne eine Kontroverse auszulösen.
Angesichts der russischen Einmischungen im US-Wahlkampf ist die Schärfe der Demokraten nachvollziehbar.
Es gibt Demokraten, die in der russischen Einmischung den Grund sehen, weshalb Hillary Clinton die Wahlen verloren hat. Aber erstens haben sich die USA seit mehr als 70 Jahren regelmäßig in Wahlen in anderen Nationen eingemischt. Und zweitens ist das Ausmaß der russischen Einmischung völlig übertrieben worden. Clinton war eine schlechte Kandidatin, die eine schlechte Kampagne gemacht hat und außenpolitisch aggressiver war als Donald Trump.
Die erste Reaktion aus Moskau auf Trumps Ankündigung war erleichtert. Motto: Jetzt können wir neue optische Waffen und neue Langstreckenraketen entwickeln. Das klingt, als ob Trump Putin einen Gefallen getan hätte.
Putin redet seit mehr als 15 Jahren davon, dass der INF-Vertrag obsolet sei, und er kritisiert vieles, das Gorbatschow getan hat. Der INF-Vertrag von 1987 bevorteilte die USA. Er verbot die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa, aber er unternahm nichts gegen die luft- und seegestützten Raketen, bei denen die USA überlegen waren.
Wieso geben die USA jetzt einen Vertrag auf, der sie begünstigt hat?
Weil der „unipolare Moment“ – oder ab 2002 die „unipolare Ära“ – zu Ende ist. Nachdem die USA in Afghanistan einmarschiert waren, betrachteten Dick Cheney (Vizepräsident unter George W. Bush; d. Red.) und Paul Wolfowitz (sein Berater; d. Red.) die USA als Welt-Hegemon. Sie fühlten sich stark. Aber dann marschierten die USA im Irak ein, und die Hölle ging los.
71, ist Professor für Geschichte und Direktor des Institut for Nuclear Studies an der American University in Washington, DC. Neben zahlreichen anderen Veröffentlichungen über die Geschichte des 20. Jahrhunderts, den Kalten Krieg und das atomare Wettrüsten, ist er Co-Autor der „Untold History of the United States“.
Wie beschreiben Sie den jetzigen Moment?
Die Welt ist komplizierter geworden. China mag heute nur 280 Atomwaffen haben – nicht viel im Vergleich zu den jeweils mehr als 6.000 in den USA und in Russland. Aber China wird stärker. Es hat die größte Marine der Welt, hat die Kontrolle über das Südchinesische Meer durchgesetzt und über große Teile vom Ostchinesischen Meer. Und 95 Prozent der chinesischen Raketen fallen unter den Bereich, der im INF-Vertrag verboten ist. Wir sind an einem multipolaren Moment angelangt, in dem die USA militärisch von Russland sowie wirtschaftlich und in gewisser Hinsicht auch militärisch von China herausgefordert werden.
Hat Trump Druckmöglichkeiten gegenüber China?
Die Chinesen haben eine globale Politik gegen Erstschläge vorgeschlagen. Und sie wollten keine Bewaffnung des Weltraums. Aber die USA haben diese Vorschläge in der UNO blockiert. Wenn die USA zu einer breiteren, universellen Abrüstung bereit wären, könnte es sein, dass die Chinesen sich darauf einlassen und Begrenzungen ihrer Raketen akzeptieren. Aber wenn China es nicht tut, wird Indien es nicht tun. Wenn Indien es nicht tut, wird Pakistan es nicht tun. Und so weiter.
Wozu führt das dann?
Es schafft nukleare Anarchie.
Wer hat Interesse an nuklearer Anarchie?
John Bolton (Berater für die Nationale Sicherheit im Weißen Haus; d. Red.), Trump und ihre Alliierten glauben, dass sie den Rüstungswettlauf gewinnen können. Trump glaubt, dass er in der Lage ist, Russland, China und alle anderen mit höheren Rüstungsausgaben zu überbieten. Genau dasselbe hat schon Ronald Reagan gemeint. Als Gorbatschow 1986 von dem Treffen in Reykjavík zurückkam, klagte er über die Höhlenmenschen-Mentalität der Amerikaner. Und über deren Idee, die Sowjetunion in einen Rüstungswettlauf zu drängen, bei dem sie nicht mithalten konnten.
Das hat ja geklappt.
Es war nicht haltbar, dass 25 Prozent und mehr des BIP in Militärausgaben flossen. Aber diese Politik ist dennoch sehr gefährlich und sehr destabilisierend.
Schon unter Obama haben die USA eine nukleare Modernisierung begonnen, die weit über eine Billion Dollar kosten wird. Jetzt bahnt Trump den Weg für ein neues Wettrüsten mit Russland. Aber in den USA findet kaum eine öffentliche Diskussion über den Sinn dieser folgenschweren Entscheidungen statt. Warum?
Welcome to America. Hier dreht sich alles um den Gouverneur von Virginia oder um Migranten an der Südgrenze. Aber nicht um das INF oder den neuen Kalten Krieg. Die Amerikaner leben in einem wirklichkeitsfremden Zustand. Das begann schon 1985, als sich die bilateralen Verhältnisse mit der Sowjetunion zu verbessern begannen.
Wie erklären Sie das?
Wenn es um Außenpolitik geht, gibt es hier keine echte Oppositionspartei. Die Demokraten haben zwar George W. Bush kritisiert, als er im Amt war. Aber dann hat Obama in Sachen Sicherheitsstaat, Massenüberwachung und US-Empire viel von der Politik legitimiert, die unter Bush so kontrovers war.
Spielt es nicht auch eine Rolle, dass die USA im Gegensatz zu Russland nie massive Kriegszerstörungen auf dem eigenen Territorium erlebt haben?
Das ist ein Faktor. Aber insgesamt erleben wir hier eine bedrückende Ignoranz, wenn es um Geschichte geht. Sie haben keine Ahnung vom Kaltem Krieg und sie verstehen nichts von der Ukraine. Das macht es schwer, zu verstehen, was in der Welt passiert.
Hat die Präsidentschaft von Trump dieses öffentliche Bewusstsein über Außenpolitik nicht verändert?
Was mich optimistisch macht, sind die Schüler. Ich habe in diesem Jahr an die 30 Interview-Anfragen zum National History Day bekommen. Dabei geht es meist um das Manhattan Project (das die US-amerikanische Atombombe im Zweiten Weltkrieg entwickelt hat; d. Red.), das jahrelang niemanden interessiert hat.
Was sagen die Parlamentarier zu Trumps INF-Rückzug?
Es gibt zehn Demokraten im Senat, die Trump daran hindern wollen, den INF-Vertrag zu kündigen. Sie wollen die Finanzierung von Raketen, die nicht den Regeln des INF-Vertrags entsprechen, verhindern.
10 von 100 Senatoren sind nicht besonders viel. Was können sie ausrichten?
Sie haben eine Chance, es durch das Repräsentantenhaus zu bringen. Aber im Senat ist es zweifelhafter.
Ist Trump in Atomfragen also weiterhin allein an Bord?
Wie in den 80er Jahren gibt es die Öffentlichkeit. Sie hat damals eine Atmosphäre geschaffen, die Ronald Reagan entgegen seiner ursprünglichen Absicht einem Verbot von Atomwaffen in Reykjavík nahe kommen ließ. So eine Atmosphäre könnte wieder entstehen. Dafür spricht auch die neue Energie in der Demokratischen Partei, die mit den jungen und progressiven Frauen in das Repräsentantenhaus gekommen ist.
Der INF-Vertrag war einer der letzten des Kalten Kriegs. Seit er in Kraft getreten ist, haben sich Blöcke und nationale Grenzen, aber auch Waffentechnologien verändert und ist die Zahl der Atomwaffen von rund 65.000 auf rund 10.000 reduziert worden. Macht es da nicht Sinn, einen neuen Vertrag zu schließen?
Es macht Sinn, zu versuchen einen neuen zu verhandeln. Aber nicht, den INF-Vertrag in dem Prozess aufzukündigen. Was wir brauchen, ist mehr Kooperation, mehr Vertrauen, mehr Verhandeln, mehr Diplomatie. Aber was die USA tun – angefangen mit dem ABM-Vertrag (der eine Begrenzung von Raketenabwehrsystemen regelte; d.Red.), dem Auszug aus dem Pariser Klima-Abkommen, aus dem Iran-Abkommen und jetzt aus dem INF-Vertrag –, ist etwas anderes.
Und es geht weiter: Trump hat bereits angekündigt, dass er nicht zu Diskussionen über die 2021 fällige Erneuerung des neuen START-Abkommens bereit ist. Das lässt befürchten, dass wir auf dem Weg zurück in die 80er Jahre sind. Damals gab es in der Welt das atomare Zerstörungspotenzial von 1,47 Millionen Hiroschima-Bomben. Dahin könnten wir zurückkommen. Aber seither ist die Welt gefährlicher geworden. Mit Dutzenden von Ländern, die technologisch die Fähigkeit haben, sich atomar zu bewaffnen, und die einen Druck spüren, das zu tun. Das macht die nukleare Anarchie zu einer realen Möglichkeit.
Was sollte ein neuer Vertrag leisten?
Ich glaube nicht, dass es eine Chance für einen neuen Vertrag gibt. Die einzige Hoffnung, die wir haben, ist es, nicht zu erlauben, den alten Vertrag zu zerreißen. Wenn es tatsächlich darum ginge, ob sich Russland an den Vertrag hält, müssten gegenseitige Inspektionen der logische Schritt sein. Die USA könnten russische bodengestützte Raketen inspizieren. Und die Russen könnten das AEGIS-Abwehrsystem der USA in Rumänien inspizieren, von dem sie glauben, es könne leicht für das Abfeuern bodengestützter Cruise-Missiles umgerüstet werden.
Welche Rolle sehen Sie für Europa in dieser Situation?
Der deutsche Außenminister Heiko Maas und die Außenbeauftragte der EU, Federica Mogherini, haben den INF-Vertrag deutlich unterstützt. Aber die Nato ist sofort eingeknickt und hat Trump den Rücken gestärkt, obwohl sie den INF zuvor als eine Säule der Stabilität und der Waffenkontrolle bezeichnet hat.
Woher kann also die Lösung kommen?
Ich hoffe, dass die europäische Öffentlichkeit Druck auf die politisch Verantwortlichen ausübt. Europa kann den USA die Stationierung neuer Raketensysteme verbieten und die USA auch unter Druck setzen, indem es den Abzug der anderen Atomwaffen aus Europa verlangt. Europa sollte die USA an diesem Punkt nicht als Alliierte betrachten. Sie bringen die Welt in Gefahr. Das zwingt Europa dazu, eine unabhängige Position einzunehmen.
Europa sollte stärker auf Russland zugehen. Es könnte sein Missfallen auch ausdrücken, indem es ein Veto gegen den exzessiven Gebrauch von Sanktionen einlegt. Die Europäer versuchen gerade etwas gegenüber dem Iran, wo Trump ebenfalls ein Abkommen gekündigt hat, das funktionierte. Vielleicht ist die Umgehung des US-Finanzsystems der alternative Weg und das Vorbild.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers