UN-Bericht zum Krieg in Äthiopien: Konflikt von „extremer Brutalität“
Die UN-Menschenrechtskommission erhebt schwere Vorwürfe gegen alle Kriegsparteien in Äthiopien. Nun müssten juristische Ermittlungen folgen.
Die Mutter eines jungen Tigrayers erzählt, wie äthiopische Soldaten am 8. Januar 2021 ihren Sohn abholten, weil sie ihn als Rebellen verdächtigten. Er sei hingerichtet worden, ebenso wie 35 andere Menschen. Aus dem Ort Mai Kadra im Westen Tigrays berichtet eine Überlebende von einem Massaker durch Tigray-Milizionäre an Amhara-Zivilisten am 9. November 2020: „Als sie das Haus anzündeten, griff mein Mann einen Stock, um sich zu verteidigen, und ging hinaus. Ihm wurde in den Rücken geschossen. Er fiel mit dem Gesicht nach unten, die anderen hackten mit ihren Macheten auf ihn ein und warfen seine Leiche dann ins Feuer.“
Unzählige solcher Greueltaten dokumentiert der Untersuchungsbericht der UN-Menschenrechtskommission zu den Verbrechen im Tigray-Krieg, der am Mittwoch in Genf veröffentlicht wurde. Auf der Grundlage von 269 Interviews, die zwischen Mitte Mai und Ende August 2021 geführt wurden, werden systematisch Verbrechen aufgezählt und beschrieben. „Der Bericht ist keine erschöpfende Aufstellung“, erklärte UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet in Genf, „aber er illustriert die wichtigsten Formen und das Gesamtmuster der Übergriffe“. Der Konflikt sei von „extremer Brutalität“ gekennzeichnet.
Der Begriff „Völkermord“ – ein Vorwurf, den Tigrays Rebellen regelmäßig gegen Äthiopiens Regierung erheben – kommt in der Auflistung jedoch nicht vor. Das veranlasste Äthiopiens Regierung zu einer selbstgefälligen Reaktion: Der Bericht „stellt klar, dass der Vorwurf des Völkermordes falsch und ohne jegliche Grundlage ist“, behauptete Premierminister Abiy Ahmed.
Alle Seiten für schwere Verbrechen verantwortlich
UN-Kommissarin Bachelet widersprach dem in Genf deutlich. „Die Beweislage reicht nicht aus, um die Intention und das Ausmaß ethnischer Verbrechen zu charakterisieren,“ sagte sie, aber es habe durchaus „Anstiftung zu Gewalt auf Grundlage der Ethnizität“ gegeben. Juristische Ermittlungen – notfalls auf internationaler Ebene, falls die sehr intransparente äthiopische Justiz das nicht leiste – seien nun nötig.
Bachelet stellte klar, dass im Untersuchungszeitraum – von Kriegsbeginn am 3. November 2020 bis zur Rückeroberung von Tigrays Hauptstadt Mekelle durch die Rebellen am 28. Mai 2021 – eritreische und äthiopische Regierungstruppen die Haupttäter gewesen seien. Seither gebe es zudem eine „deutliche Zunahme“ von Vorwürfen gegen die Tigray-Rebellen. Alle Seiten seien für schwere Verbrechen verantwortlich.
Beobachter hatten im Vorfeld befürchtet, dass der UN-Bericht Äthiopiens Regierung komplett reinwaschen würde. Denn die UN-Untersuchung musste gemeinsam mit Äthiopiens Menschenrechtskommission EHRC durchgeführt werden, die offiziell unabhängig ist, aber als regierungsnah gilt. Sonst hätte Äthiopien die Untersuchung gar nicht zugelassen.
Ungeachtet dessen wurden die Untersuchungen der UN-Ermittler immer wieder behindert. Sie durften keine Satelittentelefone benutzen, auch die Kommunikationsnetzwerke in Tigray waren abgestellt. Zudem waren die UN-Ermittler von Reisegenehmigungen der Behörden abhängig, die oft verweigert wurden. So durften sie manche der Massakerorte gar nicht besuchen. Sogar den UN-Menschenrechtsbeauftragten wies Äthiopien im vergangenen Monat aus.
Dennoch sei man zuversichtlich, „eine erhebliche Menge an Informationen gesammelt“ zu haben, so Bachelet. Sie warnte zugleich, dass seit Ende der Untersuchung die Zahl der Verbrechen weiter zunähme. So seit zwei Wochen die äthiopischen Luftangriffe auf Tigray und „summarische Hinrichtungen und Massenvertreibungen“.
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