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UN-Behindertenrechtskonvention„Hochkritische“ Entwicklung

Die UN-Behindertenrechtskonvention galt als Meilenstein zur Selbstbestimmung. Doch zehn Jahre später sieht es damit nicht gut aus.

Mittlerweile arbeiten mehr Menschen in Behindertenwerkstätten – wie hier in Teltow bei Berlin Foto: Karsten Thielker

Berlin taz | Als vor zehn Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention (UNBRK) in Deutschland in Kraft trat, war Inklusion ein kaum bekannter Fachbegriff und die Behindertenpolitik wurde traditionell dominiert vom Fürsorge- statt vom Selbstbestimmungsprinzip. In dieser Hinsicht habe sich Substanzielles getan, bilanzierte das Deutsche Institut für Menschenrechte am Mittwoch in seinem 10-Jahres-Bericht.

Aber eine Dekade nach Inkrafttreten der UNBRK leben mehr Menschen in Behindertenwohnheimen, arbeiten mehr Menschen in Behindertenwerkstätten und ist die Quote der Kinder mit Behinderung, die abseits des regulären Schulsystems unterrichtet werden, in einigen Bundesländern sogar gestiegen. Als „hochkritisch“ bewertet Valentin Aichele, Leiter der Monitoring-Stelle UNBRK des Deutschen Instituts für Menschenrechte, diese Entwicklung.

Kein anderer völkerrechtlicher Vertrag wurde je so schnell von so vielen Staaten unterzeichnet wie die UNBRK: 177 Staaten und die EU haben sie seit 2008 ratifiziert, Deutschland gehörte zu den Erstunterzeichnern. Seit dem 26. März 2009 ist die UNBRK hierzulande rechtsverbindlich: Bund und Länder haben demnach darauf hinzuwirken, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt zu allen Lebensbereichen Zugang haben. In Deutschland hat jedeR Zehnte eine anerkannte Schwerbehinderung, im Sinne der UNBRK sind sogar bis zu 25 Prozent aller Deutschen beeinträchtigt.

Die unabhängige Monitoring-Stelle am Deutschen Institut für Menschenrechte überwacht im Auftrag der Bundesregierung die bundesweite Umsetzung der UNBRK. In ihrer Bilanz hat sie nun Schlaglichter auf die wesentlichsten Lebensbereiche geworfen.

Fortschritte im Bereich Wohnen erzielt

So sind im Bereich Wohnen Fortschritte zu verzeichnen: Mehr Menschen leben selbstbestimmter in eigenen Wohnungen – vor allem Menschen mit psychischer Beeinträchtigung profitieren von dieser Entwicklung. Parallel dazu hat sich allerdings auch die Zahl der Menschen, die stationär in Sondereinrichtungen untergebracht sind, erhöht. Insgesamt leben über 60 Prozent der Menschen, die Anspruch auf Hilfe zu einem selbstbestimmten Leben haben, in Behindertenwohnheimen.

Mit der UNBRK, so der Bericht, sei das ebenso wenig vereinbar wie die Tatsache, dass Behindertenwerkstätten für viele Menschen mit Behinderung die einzige Option auf Beschäftigung ist. Die Anzahl der dort Beschäftigten steigt seit Inkrafttreten der UNBRK kontinuierlich an und lag 2017 15 Prozent über dem Wert von 2009. Zwar ist auch die Zahl der Unternehmen, die Menschen mit Behinderung beschäftigen, gestiegen.

Auch in Werkstätten bräuchte es Mindestlohn

Aber noch immer zahlen in Deutschland 37.000 Unternehmen lieber eine Strafabgabe, als auch nur einen einzigen Menschen mit Behinderung einzustellen. Um bestehende Sonderstrukturen abzubauen, wie es die UNBRK verlangt, ist es laut Bericht unumgänglich, auch in Werkstätten schrittweise den gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Bislang verdienen die dort Beschäftigten im Schnitt weniger als 200 Euro monatlich.

Auch in dem Bereich, der in Sachen Inklusion am meisten Schlagzeilen machte, fällt die Bilanz durchwachsen aus: Die Quote der SchülerInnen, die nicht im regulären Schulsystem, sondern an Förderschulen unterrichtet werden, ist seit 2009 nur minimal gesunken und in drei Bundesländern sogar gestiegen.

Hoffnungslos ist man in der Monitoringstelle nicht: Gerade die zahlreichen Aktionspläne zur Umsetzung der UNBRK auf Bundes- und Landesebene, die Weiterentwicklung der Behindertengleichstellungsgesetze und der wahlrechtlichen Regelungen, die zunehmende Datensammlung zur Lebenssituation von Menschen mit Behinderung und vor allem ihre Beteiligung an den sie betreffenden politischen Entscheidungen seien als große Erfolge zu werten. Mit Folgen für die gesamte Gesellschaft.

„Deutschland hat sich durch die UN-Behindertenrechtskonvention positiv verändert“, resümiert Valentin Aichele. Aber Barrieren blieben in allen Lebensbereichen, und nur ein Teil von Politik und Gesellschaft nehme den Auftrag der UNBRK wirklich ernst. Im Jahr 2020 soll der nächste Kontrollbericht der Monitoring-Stelle erscheinen.

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3 Kommentare

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  • In der Tat ist die emanzipatorische Entwicklung für (von der Gesellschaft) Behinderten in Deutschland durchaus schlechter.



    Ein paar realpolitische Überlegungen zur Verbesserung von Teilhabe und Selbstbestimmung:



    * Strafgelder für behindertenfeindliche/nichteinstellende Unternehmen erhöhen oder gleich eine Quote für die Einstellung für (von der Gesellschaft) behinderte Menschen einführen und damit Nichteinstellung massiv erschweren. Arbeitsassistenz ausbauen. Das (segregierende) Werkstattsystem rückbauen.



    * Nicht nur Mindestlohn: der Lohn darf nicht mit Assistenz oder Hilfsmittel verrechnet werden. Nachteilsausgleichsgebot muss konsequent beachtet werden.



    * Bundesteilhabegesetz aussetzen bzw. refomieren: kein (Zwangs)Pooling von Assistenz. Kein Kostenvorbehalt für Wohnformentscheidungen...



    * Bauliche Barrieren (auch bei Läden) unter Strafe stellen bzw. als Klagegrund legalisieren und hohe Strafzahlungen ermöglichen. Ich meine, so etwas gibt es in anderen Ländern (USA?). Entsprechend barriereärmer ist es dort.



    * Inklusion: inklusive Bildungskonzepte verbreiten (u.a. in Leher*innenausbildung), mehr solcher Lehrer*innen einstellen. Abschaffung der "Sonderschulen".



    * ...

    • @Uranus:

      Bin der gleichen Meinung.Keine Sonderschulen mehr,denn der Abschluss gilt nicht für eine Berufsausbildung.Und es sollte eine Arbeitsassistenz für die Zeit geben,in der eine Berufaausbildung begonnen wird bzw. ein Arbeitsplatz besetzt wird.Natürlich je nach individuellem Bedarf.Und diese Arbeitsassistenten könnten die Ausbilder/Gruppenleiter/Teamleiter/Lehrer aus den dann nicht mehr benötigten Werkstätten und Sonderschulen sein.Diese Assistenten könnten bei den Arbeitgebern angestellt sein oder der entsprechende Träger teilt sich das mit dem Arbeitgeber.-Ich weiß,dass Menschen mit Behinderung fast immer sehr gute Arbeit verrichten und auch gern zur Arbeit gehen.Und sie sind auch für Neues offen,man muss es ihnen nur anbieten.

  • Es gibt eine nahtlose Verbindung zwischen den Schulen und Behindertenwerkstätten. Ich habe schon sogar Verzinkungsanlagen in Sprachheilschulen gesehen - also den Schulformen, die eigentlich dazu da sind die Betroffenen möglichst auf den normalen Schulweg zu bringen.Das wird natürlich nicht gemacht und der Mensch wird als Ware in einer Verwertungskette gesehen, die er möglichst nicht selbst bestimmen kann.

    Was die Bezahlung betrifft - die Menschen mit Handicap speist dieses Land mit Taschengeld ab.

     

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