Türkischer Journalist zu Medienfreiheit: „Fotografieren gilt in der Türkei als politischer Akt“
Yasin Akgül wurde im März 2025 festgenommen, weil er einen Protest fotografierte, nun ist er freigesprochen. Dennoch sei das ein Einschnitt, sagt er.
taz: Herr Akgül, Sie wurden im vergangenen Jahr in Istanbul festgenommen. Was ist damals genau passiert?
Yasin Akgül: Alles begann, nachdem gegen den Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war. Als das bekannt wurde, versammelten sich Menschen vor dem Rathaus im Stadtteil Saraçhane. Im Laufe des Abends kamen immer mehr Studierende dazu, und in der Nähe kam es zu Konfrontationen zwischen Polizei und Demonstrierenden. Ich war als Fotojournalist dort, um das zu dokumentieren. Die Situation war unübersichtlich, aber bei Weitem nicht das, was man später daraus gemacht hat.
arbeitet seit über 15 Jahren als Fotojournalist unter anderem für die AFP. Akgül dokumentiert Protestbewegungen und soziale Konflikte in der Türkei sowie im Nahen Osten. Im Frühjahr 2025 wurde Akgül im Zuge der Proteste in Istanbul festgenommen und mehrere Tage festgehalten
taz: Wie würden Sie die Proteste einordnen?
Akgül: Verglichen mit Gezi 2013 war das eine völlig andere Dimension. Viele der jungen Menschen waren damals Kinder und hatten keinerlei Erfahrung mit Demonstrationen oder politischen Aktionen. Die Proteste gegen İmamoğlus Verhaftung waren eher spontan. Die heftigste Auseinandersetzung bestand darin, dass einige Plastikflaschen geworfen wurden. Trotzdem wurde es später so dargestellt, als hätte es sich um eine Art Aufstand gehandelt. Diese Diskrepanz zwischen tatsächlicher Situation und politischer Interpretation ist zentral für das, was danach passiert ist.
taz: Und dann wurden Sie festgenommen?
Akgül: Am nächsten Morgen, gegen 6 Uhr, stand eine Polizeieinheit vor meiner Wohnung. Ich hatte keine Ahnung, warum. Auf der Polizeiwache wurde mir klar, dass nur Fotojournalistinnen und Fotojournalisten festgenommen worden waren. Insgesamt waren wir acht Bildjournalisten und ein Kameramann. Uns wurde vorgeworfen, wir hätten an einer illegalen Demonstration teilgenommen. Alle Beweise bestanden aus einem einzigen Foto, auf dem man meinen Hinterkopf sieht.
taz: Sie sprechen davon, dass das historisch gesehen ein Einschnitt war. Inwiefern?
Akgül: In der modernen türkischen Geschichte hat es so etwas noch nicht gegeben. Journalistinnen und Journalisten wurden immer wieder festgenommen, vor allem in Krisenzeiten. Aber dass man gezielt Fotojournalisten verhaftet und gleich mehrere auf einmal – das ist neu. Fotojournalisten galten lange als diejenigen, die zwar dokumentieren, aber politisch nicht „mitgemeint“ sind. Jetzt wird schon das Fotografieren selbst als politischer Akt interpretiert.
taz: Welche Rolle spielt dabei der Presseausweis?
Akgül: Der staatliche Presseausweis war früher selbst in angespannten Zeiten ein gewisser Schutz. Man konnte damit selbst in sehr konfliktgeladenen Regionen deutlich machen, dass man journalistisch arbeitet. Heute verliert diese Karte ihre Funktion, weil die Regierung die Vergabe vollständig kontrolliert und politisiert. Etwas, das früher Schutz bot, ist inzwischen zu einem Instrument geworden, das journalistische Arbeit ermöglicht oder verhindert – und damit zu einem Machtmittel gegen die freie Berichterstattung.
taz: Worum geht es der Regierung konkret?
Akgül: Um Sichtbarkeit. Worte kann man relativieren, Bilder nicht. Fotos verbreiten sich weltweit in Sekunden. Sie schaffen internationale Öffentlichkeit, und das ist in einem autoritären Kontext hochsensibel. Bei Protesten entscheidet das Bild darüber, ob ein Ereignis national bleibt oder global wahrgenommen wird. Genau dagegen richtete sich die Festnahme. Man wollte verhindern, dass Bilder entstehen, bevor sich eine Erzählung politisch festlegt.
taz: Welche Rolle spielt Gezi in dieser Entwicklung?
Akgül: Gezi war ein Wendepunkt. Bis 2013 gab es eine gewisse Pluralität in der Medienlandschaft. Damals waren Hunderte Bildjournalisten auf den Straßen, auch internationale. Ich selbst war täglich draußen und habe erlebt, wie sichtbar diese Proteste international wurden. Danach hat die Regierung verstanden, dass nicht nur Worte, sondern besonders Bilder politische Dynamik erzeugen. Seitdem wird versucht, Bildjournalismus einzuschränken oder aus der Situation herauszunehmen. Die Medien wurden weitgehend zentralisiert, viele Redaktionen geschlossen oder an regierungsnahe Konzerne verkauft. Das hat die journalistische Landschaft stark verarmt.
taz: Was heißt das für die Arbeit im Alltag?
Akgül: Die Polizei setzt seltener Tränengas ein, weil Gasbilder sofort viral gehen. Stattdessen werden Journalist:innen eingekesselt, abgedrängt, festgenommen und als Teil des Konflikts behandelt. Während der Proteste wurde ich ab einem bestimmten Moment nicht mehr als Journalist gesehen, sondern als Demonstrant. Das ist eine völlig neue Bewertung unserer Arbeit.
taz: Was macht das mit dem Beruf insgesamt?
Akgül: Die Botschaft ist deutlich: Wer fotografiert, kann festgenommen werden. Früher war man gefährdet, aber man galt juristisch nicht als Beteiligter. Heute reicht die Anwesenheit. Wenn ein Staat Fotojournalisten wie Demonstrierende behandelt, dann geht es nicht mehr um Einzelfälle. Dann hat sich das Verständnis von Presse grundlegend verändert: Bildjournalismus wird als Gefahr begriffen. Das ist ein historischer Bruch.
taz: Bedeutet das, dass die Pressefreiheit noch weiter eingeschränkt wird?
Akgül: Ja. Wir bewegen uns Richtung vollständiger Kontrolle. Früher war die Arbeit gefährlich wegen der Themen – heute ist das Medium selbst das Problem. Schon das Halten einer Kamera wird zur Bedrohung erklärt. Die große Veränderung ist, dass das Bild als Machtmittel identifiziert wurde. Wenn man verhindern will, dass bestimmte Bilder existieren, dann verhindert man den Bildjournalismus.
taz: Was heißt das für junge Kolleginnen und Kollegen?
Akgül: Die Lebensbedingungen machen es fast unmöglich, lokal zu arbeiten. Nur sehr wenige bekommen einen offiziellen Presseausweis, weil die Regierung ihn oft verweigert – und das ist im Moment eines unserer größten Probleme. Der Presseausweis wird hier nämlich nicht von Berufsverbänden oder Gewerkschaften vergeben wie in vielen anderen Ländern, sondern direkt vom Staat. Dadurch kann die Regierung über die Frage entscheiden, wer journalistisch arbeiten darf und wer nicht. Ich empfehle deshalb allen, Sprachen zu lernen und internationale Kontakte aufzubauen. Nur über ausländische Medien kann man hier auch wirtschaftlich überleben.
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