Türkische Juristin in Gefängnis: Anwältin im Hungerstreik gestorben
Ebru Timtik ist nach 238 Tagen Verzicht auf Nahrung in einem Istanbuler Haftkrankenhaus gestorben. Sie war wegen Terrorvorwürfen verurteilt worden.
Ebru Timtik und Aytac Ünsal gehören zu einer Gruppe von 18 AnwältInnen, die alle im März 2019 als Mitglieder, Anführer oder Unterstützer einer terroristischen Vereinigung – gemeint ist die DHKP/C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei/Front) – zu jeweils langjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren. Ebru Timtik war zu 13 Jahren und 6 Monaten Gefängnis verurteilt worden und saß zuletzt im Knast in Silivri, dem Hauptgefängnis für politische Gefangene in der Türkei.
Nachdem eine Berufungskammer das Urteil gegen Timtik und ihre Mitangeklagten bestätigt hatte, lief zuletzt noch ein Revisionsantrag vor dem Obersten Gericht der Türkei.
Ebru Timtik war Anwältin in einem linken Anwaltskollektiv „Anwaltskanzlei des Volkes“ und gehörte wie alle anderen Angeklagten auch der so genannten „Progressiven Anwaltsvereinigung“ an. Sowohl die Anwaltskanzlei des Volkes wie auch die übergeordnete Anwaltsvereinigung wird von der türkischen Regierung und den Strafverfolgungsbehörden insgesamt eine Nähe zur DHKP/C unterstellt.
Timtik soll Kassiber geschmuggelt haben, so der Vorwuf
Die DHKP/C geht ursprünglich auf die linksradikale Devrimci Sol zurück, die zu den bewaffneten linken Organisationen der Türkei gehörte, die in den 70er Jahren für eine sozialistische Türkei gekämpft haben und nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 mehr oder weniger ausgelöscht wurden.
Die DHKP/C gehörte zu den wenigen linksradikalen Gruppen, die anschließend noch bewaffnete Anschläge verübten und dabei Wirtschaftsbosse, Polizisten und Staatsanwälte töteten. Im Herbst 2000 führte die Gruppe einen der längsten und verlustreichsten Hungerstreiks der türkischen Geschichte in verschiedenen Gefängnissen durch, bei dem insgesamt 122 ihrer Mitglieder starben. Als die Regierung im Dezember 2000 die Gefängnisse, in den die Hungerstreiks durchgeführt wurden, gewaltsam stürmen ließ, starben noch einmal 28 Menschen.
In den letzten Jahren wurden die angeblich von der DHKP/C durchgeführten Anschläge immer bizarrer, darunter waren ein Angriff auf die US-Botschaft in Ankara und auf das Polizeihauptquartier in Istanbul.
Ebru Timtik wurde konkret vorgeworfen, als Anwältin Kassiber von DHKP/C-Gefangenen aus dem Gefängnis herausgeschmuggelt zu haben. Vertreter europäischer Anwaltsvereinigungen, die den Prozess 2018/19 beobachtet haben, kamen in einem Bericht vom Oktober 2019 zu dem Ergebnis, dass bei dem Verfahren die Rechte der Angeklagten grob verletzt wurden. Der Vorsitzende der Istanbuler Anwaltskammer Mehmet Durakoglu forderte am Freitag die Behörden auf, wenigstens das Leben von Aytac Ünsal zu retten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!